Brennende Straßenblockaden auf den Straßen in Frankreich, die von Vermummten errichtet werden
Urbane Gewalt nach dem Tod von Nahel Merzouk. Aufnahme vom 29. Juni 2023 in Besançon-Planoise | Foto: Toufik-de-Planoise | CCBY-SA4.0

»Justice pour Nahel«

Die tödliche Polizei­gewalt in Frank­reich zog Riots nach sich

Ende Juni ist in einem Vorort von Paris ein Jugendlicher gestorben, nachdem ein Polizist aus kurzer Entfernung auf ihn geschossen hatte. Die Szene wurde gefilmt und sieht wie eine Hinrichtung aus. Die Bilder zogen in vielen Städten sogenannte Unruhen nach sich. Der Staat reagiert mit heftiger Repression.

von Adèle Cailleteau

24.08.2023
Veröffentlicht im iz3w-Heft 398

Am 27. Juni 2023 wurde in Nanterre, einem Vorort nördlich von Paris, der 17-jährige Nahel Merzouk von einem Polizisten erschossen. Viele Medien zitieren zunächst polizeiliche Quellen, denen zufolge der 17-Jährige getötet wurde, weil er am Steuer eines Autos in die Polizisten gerast sei. Dank eines Videos ist nun klar, dass das nicht stimmt. Auf den Bildern sieht man einen Polizisten, der ans Auto gelehnt und aus kurzer Entfernung den Fahrer eines gelben Mercedes erschießt, während sich das Auto kaum nach vorn bewegt. Erst nach dem Schuss wird das Auto schneller und kracht gegen einen Pfosten.

Spenden für den Todesschützen

Nahel stirbt in den nächsten Minuten. Am selben Tag wurde das Video weit im Internet verbreitet. Erst danach kommt der Beamte, der geschossen hat, in Polizeigewahrsam. Das ist den zufällig aufgenommenen Bildern zu verdanken, welche die erste Polizeilegende klar widerlegten – in diesem einen Fall. In der Mehrheit der Todesfälle im Zusammenhang mit Polizeieinsätzen in Frankreich existieren keine Bilder. Es kommt dabei seit 2010 zu jährlich zehn bis 52 Toten, wie das französische Internetmagazin Basta recherchierte. Höchstwahrscheinlich wäre auch Nahels Tod ohne die Videobilder kein Ereignis mit Öffentlichkeitswert gewesen und der Schütze würde weiter als Polizist arbeiten.

Zwei Tage später eröffnete der rechtsextreme Politiker Jean Messiha online eine Spendensammlung. Dies sei eine Aktion zur »Unterstützung für die Familie des Polizisten aus Nanterre, Florian. M, der seine Arbeit getan hat und nun einen hohen Preis zahlen muss«. Jene »Kasse der Schande«, wie sie von ihren Gegner*innen genannt wurde, musste eine Woche später geschlossen werden. Bis dahin wurden bereits 1,6 Million Euro gesammelt. Man fragt sich: Macht es einen zum Millionär, wenn man einen Araber tötet? Im Vergleich wurden einen Monat nach Nahels Tod 500.000 Euro für seine Mutter gesammelt, die ihr einziges Kind verloren hat.

Diese ‚Unruhen‘ sind auch ein Auf­stand der Armen

Gleichzeitig brachten Jugendliche mit dem Ruf »Justice pour Nahel« ihre Wut auf die Straße. In den Nächten nach Nahels Tod knallte es in Nanterre und in weiteren Vororten von Großstädten – in sogenannten Banlieues. Dabei gingen vor allem junge Männer, zwischen 15 und 20 Jahre alt, auf die Straße. Sie leben in prekären Lebenslagen und erfahren im Alltag Rassismus. Es sind Menschen, denen klar ist, dass sie genau wie Nahel hätten ermordet werden können. Sie haben Mülltonnen und Autos angezündet, Schulen und weitere öffentliche Einrichtungen angegriffen und Läden geplündert. Viele Anwohner*innen dieser Viertel bekamen Angst, manche Eltern standen vor den Schulen ihrer Kinder, um diese vor Feuer zu schützen, Rapper, Influencer*innen und Vereine riefen zur Ruhe auf.

Über 25-Jährige werden bei diesen Ereignissen an dem Tod von Zyed Benna und Bouna Traoré im Oktober 2005 erinnert. Die 15- und 17-jährigen Jugendlichen starben in einem Umspannwerk, wo sie sich vor einer Polizeikontrolle versteckten. Ihr Tod war der Auslöser für drei Wochen ‚Unruhen’. Schon damals wurden Autos, Mülltonnen und einige Gebäude angezündet und es gab Sachbeschädigungen sowie Konfrontationen mit der Polizei. Jetzt, 18 Jahre später, sind die Schäden noch größer und die Reaktionen noch unversöhnlicher.

Gute Gründe zur Revolte …

Worum ging es dabei, was nun »Aufstände«, »Unruhen« oder »städtische Gewalt« genannt wurde? Es wurden Kleiderläden und Computergeschäfte geplündert, in denen Handys und weitere teure Geräte gestohlen wurden. Aber auch Supermärkte und vor allem Discounter wurden angegriffen, mehrere Lidl-, Action- oder Aldi-Filialen wurden geplündert. In den Medien erklären die wahlweise als »Krawallmacher« oder »Demonstranten« Bezeichneten, dass sie Whisky und teure Kleidung geklaut haben, aber auch Küchenpapier, Bonbons oder Frühstücksflocken. Die ‚Unruhen’ sind auch ein Aufstand der Armen.

Zu den öffentlichen Einrichtungen, die angegriffen wurden, zählten Mediatheken, Rathäuser, öffentliche Verkehrsmittel, aber auch Polizeistationen und Schulen. Nach einer Woche, ‚Unruhen‘ meldete die Regierung, dass 250 Schulen angegriffen wurden, von denen 60 schwer beschädigt wurden. Der französische Versicherungsverband schätzte Mitte Juli, dass 650 Millionen Euro Schaden verursacht wurden. Unter den beschädigten Gebäuden befinden sich viele öffentlichen Einrichtungen, die sich mehr als anderswo in einer Schieflage befinden. Ihr schlechter Dauerzustand zeigt den Armen den Grad ihrer Diskriminierung.

Nur zwei Beispiele: Das Gymnasium Paul-Eluard in Saint-Denis, einer großen, aber armen Stadt nördlich von Paris, wurde nicht angegriffen – zumindest nicht von den ‚Krawallmachern‘. Aber seit Jahren wird es nicht renoviert und während den letzten Ferien fiel ‚von selbst‘ ein großes Stück Decke in ein Verwaltungsbüro. Es gab dort auch Wasserlecks und Überflutungen, außerdem regnete es hinein. Erst nachdem die Angestellten die Situation per Internet und Medien bekannt machten, stellte der Staat Geld für Renovierungsarbeiten bereit. In dem Gymnasium Voillaume in einer Nachbarstadt kam es im letzten Winter zu Stromausfällen, so dass Heizung wie auch Licht mehrmals nicht funktionierten. Die zwei Gymnasien, die jeweils von mehr als 2.000 Schüler*innen besucht werden, wurden während der ‚Unruhen’ nicht angegriffen. Sie brauchen das nicht, um zu zerfallen: Die Versäumnisse der Französischen Republik erledigen das.

… und eine Kollektivstrafe

Der Bürgermeister von Le Blanc-Mesnil, einer armen Stadt nordöstlich von Paris, hat nun entschieden, die Freizeitanimationen in seiner Stadt für den Sommer abzusagen: »Mit den Einsparungen können die von den Randalierern verursachten Schäden behoben werden«, wurde auf der Straße plakatiert. Also kein Feuerwerk, kein Ball, kein städtischer Strand. In einer Stadt, in der die Hälfte der Bevölkerung aus Geldmangel nicht in den Urlaub fahren kann, entscheiden sich die Volksvertreter*innen für eine Kollektivstrafe.

Während der ‚Unruhen’ wurden viele Polizist*innen mobilisiert. Nachts waren sie an manchen Orten nicht alleine auf dem Posten: In der Stadt Lorient in der Bretagne haben Journalist*innen der Le Télégramme und Ouest-France gesehen, wie eine Gruppe von etwa 25 vermummten Männern die ‚Krawallmacher‘ angriffen und einzelnen Handschellen anlegten, um sie der Polizei zu übergeben. In dieser Stadt liegt ein Marinestützpunkt. Dort leben 4.000 Soldat*innen, von denen einige möglicherweise an den Milizen beteiligt waren. Die Armee prüft das nun mit einer Ermittlung.

In Marseille ist ein 27-jähriger Mann am Rand der Krawalle gestorben. Die Staatsanwaltschaft hält es für möglich, dass der Tod durch einen Schock in Verbindung mit einem Schuss aus einer polizeilichen Gummigeschoss-Waffe der Marke Flashball während der ‚Unruhen’ verursacht wurde. Eine Ermittlung wurde eröffnet. Sein Cousin hatte eine Nacht zuvor durch den Schuss einer Flashball das linke Augenlicht verloren. Auch in Marseille wurde Hedi, 21, durch eine Flashball die Schädeldecke eingerissen. Ein Polizist kam daraufhin in Untersuchungshaft, was zu speziellen Protesten führte: Fünf Prozent der Polizeibeamt*innen ließen sich laut des Innenministeriums krankschreiben. Anstatt die Polizeigewalt und Gefälligkeitskrankschreibungen anzuprangern, mimte Innenminister Gérald Darmanin den Zuhörer für die Polizei. Er versprach, zu prüfen, ob es einen Sonderstatus für die Polizei zur Verhinderung solcher Untersuchungshaften geben könne.

Innerhalb einer Woche der ‚Unruhen’ wurden 3.200 Menschen von der Polizei festgenommen, 60 Prozent von ihnen zum ersten Mal. 1.000 erhielten Strafen und 600 kamen ins Gefängnis. Journalist*innen gingen in die Gerichtsräume, um Anhörungen zu beobachten. In der Zeitschrift Society wird die Geschichte des 20-jährigen Marcus erzählt: In Villeurbanne, einem Vorort von Lyon, ist er mit in einen Carrefour City gegangen, als der Supermarkt geplündert wurde. Er nimmt zwei Packungen Bonbons und filmt mit dem Handy die leeren Regale. Plötzlich kommt die Polizei. Marcus rennt, fällt und wird festgenommen. Er hatte einen Job, sein Strafregister war leer. Er kommt dennoch ins Gefängnis: Er wurde zu 18 Monaten Haft verurteilt, von denen 12 auf Bewährung ausgesetzt werden. Kurz vor ihm wurde in Marseille eine junge Frau in den Knast geschickt: Sie hatte eine Getränkedose geklaut.

Adèle Cailleteau ist Journalistin und lebt in Saint-Denis.

Banlieues

Was sind die Banlieues? Im engeren Sinne bezeichnet das Wort Banlieue auf Französisch den Vorort einer großen Stadt. Um Paris gibt es so viele und große Vororte, dass es die größte Metropolregion der EU bildet. Tendenziell finden sich im Westen und Süden der Hauptstadt reiche Banlieues, im Norden und Osten arme.

In der Alltagssprache wird der Begriff Banlieue nur für die ärmeren Vororte mit vielen Sozialwohnungen und riesigen Wohnarealen verwendet. In Saint-Denis (111.000 Einwohner*innen) oder Nanterre (94.000 Einwohner*innen) beispielsweise leben 37 und 20 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze von 1.100 Euro im Monat.  ac

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