Kontrabass-Spieler*in mit dem Rücken zum Publikum
Lea Blua und ihr Kontrabass | Foto: Leo Sombra

»The Joke’s on you«

Genre- und Gender­grenzen werden in der brasili­anischen Musiks­zene über­schritten

Die brasilianische queere Rap- und Elektro-Musikszene ist breit aufgestellt und das ist gut so. Im besten Sinne von Queer werden hier konventionelle Gender- und Sexualitätsnormen sowie Kategorisierungen aufgebrochen.

von Derek Pardue und Lea Arafah

19.02.2024
Veröffentlicht im iz3w-Heft 401
Teil des Dossiers Queers in Bewegung

Der Titel dieses Essays zitiert den Refrain eines relativ vergessenen Songs des Punk-Künstlers Christian Lunch. Dieser findet sich auf dem ikonischen US-Punkrock-Sampler »Let Them Eat Jellybeans« von 1981 – eine Anspielung auf Ronald Reagan, den damals frisch amtierenden Präsidenten, dessen Vorliebe es war, im berühmten Oval Office Jellybeans an Besucher*innen zu verteilen. Lunchs genialer Refrain »The Joke’s on you, if you think it goes« (Der Witz geht auf dich, wenn du denkst, es funktioniert) steht für eine bewusst unkonventionelle, seltsame und queere Denkweise. Lunch beschreibt eine globale Dystopie, hervorgerufen von der Reagan-Regierung, von Thatcher sowie von den zahlreichen Militärjuntas in Ländern Lateinamerikas der 1980er. Auch 40 Jahre später wirkt sie noch nach. »The Joke’s on you« sprengte gleich mehrere Grenzen und Genres. Doch weder wurde der Song ein Hit (wenig überraschend), noch katapultierte er Lunchs Karriere auf das Level seiner Mitkünstler*innen auf dem Sampler, illustre Namen wie die Bad Brains, Black Flag oder die Dead Kennedys.

Doch Jahrzehnte später geht es wieder darum: Punk und Queerness (und auch Blackness) sind unumstößlich miteinander verwoben, immer unter Verdacht unecht, unnatürlich, keine Musik oder gar nicht menschlich zu sein. Als Rap auftaucht, wird er aus ähnlichen Gründen abgelehnt. Das Genre kommerzialisiert sich schnell und unterdrückt dabei seine queeren Wurzeln. Beide Genres haben eine gemeinsame Gewaltgeschichte: Künstler*innen erleben physische und diskursive Gewalt auf intersektionale Weise (Race, Gender, Sexualität, Klasse, Herkunft und anderes) und wandeln diese Erfahrung eindrucksvoll in Klänge und Geschichten um. So singt auch Lunch: »Fags and punks will be first to go. They’ll die ugly and they’ll die slow« (Schwuchteln und Punks werden die ersten sein, die gehen. Sie werden hässlich sterben, und sie werden langsam sterben).

Rap als Aufruf zur Transformation

Lunchs Punksong ist unsere Einleitung, in der die Bedeutung von Stimme, (Nicht-)Dazugehören und Widerstand in queeren Ausdrucksformen sichtbar wird. In der queeren brasilianischen Elektro- und Rapszene kämpfen Künstler*innen und Fans für Akzeptanz, Anerkennung und Dekolonisierung. Sie fordern ein Ende des Patriarchats und lehnen Kategorien ab, die für sie fortdauernde, existenzielle und epistemische Gewalt bedeuten. Wir schreiben diesen Beitrag in Partnerschaft: Wir, ein cis-queerer Mann aus den USA, ein Hochschulautor, und eine trans-queere Frau aus Brasilien, eine vielseitige Künstlerin. Wir trafen uns in São Paulo, einer Stadt in der wir beide viel geforscht, performt und gelebt haben.

Was ist ,echte‘ Musik in einem Land, dessen Promis Femi­zide und häus­liche Gewalt bejubeln?

Auf ihrem jüngsten Album »Trava Línguas« (Zungenbrecher, 2021) verwendet die afrobrasilianische trans Rapperin Linn da Quebrada ein subversives Wortspiel, das hilft zu verstehen, wie schwierig es für queere Menschen ist, sich zu artikulieren und die eigene Repräsentation zu bestimmen. Der Titel ist mehr als nur eine Anspielung. »Trava Línguas« ist auch ein Aufruf zur Veränderung, ein gewaltsames Aufbrechen der »travas« (Sperren) von »línguas« (Sprachen) bei der Neugestaltung des eigenen Selbst. Im Rap ging es schon immer darum, die Stimme zu erheben und sich selbst zu ermächtigen. Diesen Kampf teilen viele in der trans Community, als Teil der queeren Community, da sie nicht den konventionellen Gendernormen und binären Kategorisierungen entsprechen.  

Sich selbst zu ermächtigen und die eigene Repräsentation zu bestimmen, war immer zentral im Rap und Hip Hop. In ihrem gemeinsamen Musikvideo »All you need is love« aus dem Jahr 2021 nehmen die queeren Künstler*innen Jup do Bairro, Linn da Quebrada und Rico Dalasam jeweils eine Strophe auf. Ihre Stile und Stimmfarben variieren, doch die seltsame Mischung aus elektronischen Ambient-Beats und Synthesizern mit einem Hauch von Bloco-Afro-Percussion verbindet die drei so unterschiedlichen Künstler*innen. Der Song handelt von der Stärke des Gebens, nicht des Beherrschens.

Jenseits von Kategorisierungen

Lea und ich unterhalten uns. Wir sprechen über die Höhen und Tiefen der Beziehung zwischen Rap und Elektronischer Musik, wie sie rassifiziert, geschlechtsspezifisch und queer sind. Dann unterbricht mich Lea plötzlich. Sie hat genug von all diesen Kategorien…

»Ich hatte ein Problem mit Gender, lange bevor ich mich als trans Person verstanden habe. Ich mag schon immer Musik und es scheint, als ob Kultur Musikrichtungen voneinander trennt. Für mich gab es diese Unterscheidung nie. Die Einteilung in Genres ist für mich eine Form von Gewalt – musikalische Genres tun mir weh… Mir ist vielmehr der Klang von Musik wichtig. Ich höre also Musik, weil ich die Art und Weise mag, wie sie klingt – und ich sehe die Person dahinter jenseits von Geschlechtergrenzen.

Eine Abfolge von Noten ist nicht einfach eine bestimmte Musik und nicht dieses eine Musikgenre. Was wird aus einer Basslinie mit Quintensprüngen, wenn ich sie in Slaptechnik auf dem Kontrabass spiele? Es klingt auf einmal nach etwas Psychedelischem, etwas Mechanischem. Jemand hört eine Note, die ich spiele, und sagt: »Wow, das klingt wie ,Bella Ciao‘, das klingt wie Kusturica« – so eine Art Pauschalisierung anhand von Oberflächlichkeiten.

Musiker*in mit Konrtabass in São Paulos an einer Straßenecke
Lea Blua und ihr Kontrabass treiben sich in den schmutzigen Ecken São Paulos rum Foto: Leo Sombra

Es ist sehr frustrierend für jemanden, die – kurz gesagt – kreativ ist und von Möglichkeiten träumt, andere Arten sozialer, familiärer und affektiver Beziehungen aufzubauen. Und dann passe ich in die Kategorie Queer, unabhängig davon, ob ich ein Transvestit bin. Schon bevor ich mich selbst als trans Frau verstand, machte das Wort Queer absolut Sinn für mich, denn ich schien weder als schwuler noch als heterosexueller Mann dazu zu passen. Genauso wenig wie in der Musik. Ich hatte weder einen Platz im Punkrock, noch im Hip-Hop, Maracatu oder Elektro.«

Wir machen eine Pause. Für einen Augenblick. Kategorien verschwinden. Die Zeit scheint nicht mehr linear zu sein. Lea schickt mir Unmengen an Ton- und Videodateien, die außerweltlich wirken. KI, Kontrabass, Anime, Haut … Queeres Streben nach Einzigartigkeit. Ist das echt? Was ist ,real‘ in einem Land, in dem mehr Schwarze und trans Menschen getötet werden als in jedem anderen Land der Welt? Was ist ,echte‘ Musik und Kultur in einem Land, dessen Promis sogar Femizide und häusliche Gewalt bejubeln, ein Land, das Täter begnadigt? Lea antwortet:

»Will man das portugiesische Wort für Echtheit übersetzen, landet man in der englischen Übersetzung schließlich bei Authentizität. Ist es zum Beispiel authentisch, dass ein Instagramprofil verifiziert ist oder Instagram gar nicht zu nutzen? Um als queere Community zu überleben, müssen wir darüber nachdenken, wie wir etwas jenseits des Patriarchats und jenseits der Narrativblasen der Privilegierten aufbauen können. Dazu gehört der Aufbau neuer Beziehungsweisen zwischen Menschen – im Patriarchat wird das Familie genannt. Ich glaube nicht daran, dass es die eine queere Gemeinschaft gibt, die ein einheitlicher Safe Space ist. Unterstützungsnetzwerke sind lokal und vielfältig. Eine queere Person kann rechts, links, japanisch oder gar religiös sein. Es ist keine Frage der politischen Ideologie, sondern eine Frage eines anderen Verhaltens, das immer noch keinen Status hat.«

Weiße Vorherrschaft und Homophobie

Queersein als noch nicht realisiertes, vielfältiges, nicht kategorisierbares Gefühl der Verbundenheit, zu dem kulturelle Ausdrucksformen wie Musik direkt sprechen. Trans sein bedeutet auch zu provozieren, geradeheraus und dreist zu sein sowie konventionelle Genre- und Geschlechtergrenzen zu überschreiten (auf Portugiesisch werden diese beiden Begriffe seltsamerweise durch das gleiche Wort »gênero« dargestellt). Währenddessen befinden wir uns in einer der repressivsten und gewaltvollsten Zeit in der republikanischen Geschichte Brasiliens. Trotz der jüngsten Präsidentschaftswahlen, bei denen die brasilianischen Arbeiterpartei Partido dos Trabalhadores wieder an die Macht kam, herrscht weiße Vorherrschaft und Homophobie.

Lea und ich halten erneut inne. Wir schauen auf unsere Handys und stellen fest, dass sich die Aufnahme-App aus unerklärlichen Gründen nach zehn Minuten abgeschaltet hat. Es spielt keine Rolle. Unser Austausch hat nicht (auf das Tonband) gepasst. Es ist irgendwie perfekt. Wir machen es direkt nochmal. Lea erstellt aus unserem aufgezeichneten Chat eine Collage. Sie manipuliert Geräusche und verwandelt Gesprächsfetzen in Musik. Ihre Stimme als KI. Diese Stimme, von so vielen vor ihr geprägt. Unsere Stimmen. Wir erfinden uns immer wieder neu. So brasilianisch, völlig queer.

Derek Pardue ist außerordentlicher Professor für Global Studies an der Universität Aarhus. Er schreibt ethnografische Romane über Dunkelheit, Hip Hop und Migration. Lea Arafah aka Blua Discódia ist eine transdisziplinäre Künstlerin, autodidaktische Musikerin, Tech-Kreative und Cyberpunk-Meta-Diva.

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