historisches Bild

Exotisiert und ausgestellt

Rezensiert von Joachim Zeller

15.10.2023
Veröffentlicht im iz3w-Heft 399

Die Fachliteratur zum Forschungsthema Völkerschauen ist heute kaum noch zu überblicken. Die Mehrzahl der Publikationen fokussiert auf die Hochzeit der Völkerschauen in Europa in den Jahren zwischen 1870 und 1930, als Menschen aus Übersee einem weißen Publikum dargeboten wurden. Aber bereits im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden Menschen aus anderen Weltregionen an Fürstenhöfen und auf Jahrmärkten präsentiert, um vor allem dumpfe Schaulust zu befriedigen. Im Lauf der Zeit bildete sich ein vorgeblich eher pädagogisch motiviertes Interesse der Schausteller heraus. Aber die Völkerschauen blieben mit ihren fast durchgehend rassistisch-exotisierenden Inszenierungen des ‚Anderen‘ das, was sie von Anfang an waren, ein Akt der kulturellen Barbarei.

Schonungs­los doku­mentierte sie all die kolonial­rassistischen Klischees und Exotismen

Die im Jahr 2019 verstorbene Züricher Historikerin und Journalistin Rea Brändle gehörte mit ihren zahlreichen Veröffentlichungen zu den wichtigsten Vertreter*innen ihres Faches. Ihre Publikationen zur Geschichte der Völkerschauen sind Standardwerke, an denen niemand vorbeikommt, der sich mit der Materie befasst. Dazu zählt der Band »Wildfremd, hautnah« über die Züricher Völkerschauen. Schonungslos dokumentierte sie all die kolonialrassistischen Klischees und Exotismen, die das Geschäft mit Völkerschauen prägten. In ihrer vielleicht wichtigsten Studie »Nayo Bruce. Geschichte einer afrikanischen Familie in Europa« über den aus Togo stammenden schaustellenden Impresario ging es ihr aber auch darum, die Handlungsmacht der Darsteller*innen hervorzuheben. Nun ist posthum ihr letztes Buchprojekt unter dem Titel »Wilde, die sich hier sehen lassen« – Jahrmarkt, frühe Völkerschauen und Schaustellerei erschienen. Herausgegeben hat es ihr Lebensgefährte Andreas Bürgi. Hilke Thoda-Arora, ebenfalls eine herausragende Expertin zur Thematik, hat ein Vorwort beigesteuert.

In seiner Einleitung gibt Bürgi Einblicke in das Leben und die Arbeitsweise der Journalistin und Schriftstellerin Rea Brändle. Er berichtet, dass von den ursprünglich acht für das neue Buch geplanten Kapiteln nur vier fertiggestellt werden konnten. Bürgi lässt die Umstände nicht unerwähnt, unter denen Brändle arbeitete. Ihre Forschungsarbeiten führte sie ohne Unterstützung durch, sie erhielt weder Stipendiengelder noch sonstige Projektbeiträge. Dies liegt bekanntlich an der Struktur der Forschungslandschaft, die nahezu ausschließlich an Hochschulen angesiedelte Wissenschaftler*innen fördert.

In dem Buch greift Brändle unter anderen den Schaubetrieb des Peter Egenolf auf, der seine Schaubude in den 1830er-Jahren auf dem Münchner Sommerjahrmarkt Jakobidult eingerichtet hatte. Sie erzählt die Geschichte eines Afrikaners namens Hoongoo Rhyhoo von der Goldküste, der den »Wilden Ashanti« mimte. Außerdem schreibt sie über den Schausteller Heinrich Hill aus Hannover, der sein Schaugewerbe mit den »Haupt-Menschen-Racen« führte. Und schließlich spürt Brändle dem Lebenslauf der Schaubudenbesitzerin, Impresaria und Fotografin Emma Willardt nach. Das fünfte, nicht zu Ende geführte Kapitel handelt von einer afrikanischen Truppe, die als ohnehin falsche ethnische Wahehe zu Angehörigen des allenfalls benachbarten Matabele-Königreichs wurden. Der Band enthält auch viele eindrückliche, noch nie publizierte Bilddokumente, etwa Anzeigen der Völkerschauen, Buchillustrationen oder Fotografien.

Am Schluss des Bandes findet sich eine beeindruckende Liste von sage und schreibe 3.500 Einträgen von Völkerschauen in ganz Europa, die Bürgi auf dem Computer von Brändle sicherstellen konnte. Allein für diese Leistung hätte der Autorin die Ehrendoktorwürde zugestanden! Der Rezensent, der Rea Brändle kennenlernen durfte, schätzte sie als Mensch und Fachkollegin außerordentlich.

Rea Brändle: »Wilde, die sich hier sehen lassen – Jahrmarkt, frühe Völkerschauen und Schaustellerei«. Hrsg. Andreas Bürgi, Chronos Verlag, Zürich 2023. 288 Seiten, 38 Euro.

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