Buchcover

Vom Kinder­ar­beiter zum Kult­prä­si­denten

Rezensiert von Jürgen Schübelin

27.02.2023
Veröffentlicht im iz3w-Heft 395

Sie sind ein Beleg dafür, wie bitterernst es um die Demokratie im größten Land Lateinamerikas steht: die dramatischen Bilder aus Brasilia von der orchestrierten Erstürmung und Verwüstung des brasilianischen Kongress-Gebäudes, des Präsidentenpalastes und des Sitzes des Obersten Gerichtshofes durch mehrere Tausend in Nationalfahnen gehüllte Bolsonaro-Anhänger*innen. Zum Verständnis der Ereignisse lohnt unbedingt auch ein sorgfältiger Blick auf den erklärten Gegner dieser Möchtegern-Putschist*innen: den seit dem 1. Januar regierenden Präsidenten Luiz Inácio »Lula« da Silva, dem der Angriff vom Sonntag, den 8. Januar galt.

Ein so enges Kopf-an-Kopf-Rennen bei der Präsidentenwahl in Brasilien hatte es seit 1985, dem Ende des Militärregimes, noch nie gegeben: Mit gerade einmal 50,9 Prozent holte sich der 77-jährige Sozialdemokrat Lula am 30. Oktober 2022 zum dritten Mal das Mandat als Präsident. Für seinen Kontrahenten und Erzfeind, den rechtsradikalen Amtsinhaber Jair Messias Bolsonaro, stimmten nach einem von Gewalt und Verleumdungen geprägten, nie gesehenem Fanatismus und von Fake News beherrschten Wahlkampf 49,1 Prozent der Wählenden. Nur acht Monate zuvor hatte das – am 8. Januar gestürmte und verwüstete – Oberste Bundesgericht Brasiliens für Lula den Weg zu einer erneuten Kandidatur freigemacht. Das Gericht annullierte vier hochumstrittene Korruptionsurteile, die dem Führer der Partido dos Trabalhadores (PT) eine zwölfjährige Haftstrafe eingebracht hatten, von der er am Ende nur 580 Tage absaß: Das ist lateinamerikanisches Politik-Drama pur! Mit seinem Buch Luiz Inácio Lula da Silva – Eine politische Biografie spürt der profunde Brasilienkenner, Journalist und Geograph Andreas Nöthen dem Lebensweg einer der ungewöhnlichsten politischen Persönlichkeiten Lateinamerikas nach und schenkt dem Portraitierten dabei – um das bereits klarzustellen – überhaupt nichts.

»Dieser Mann ist der beliebteste Politiker des Planeten.«

Über weite Teile liest sich diese Biografie wie ein zum wissenschaftlichen Sachbuch umgearbeitetes Filmdrehbuch: Ihr Protagonist kommt aus ärmlichsten Verhältnissen, geboren in einer Kleinstadt im Nordosten Brasiliens. Als Armutsmigrant, aufgewachsen in einer Favela in der Nähe von São Paulo, arbeitet er im Kindesalter als Schuhputzer und mit 14 Jahren in einer Metallwarenfabrik. Er kämpft sich hoch zum Gewerkschaftsführer, wird mehrfach verhaftet und wegen Streikaufrufen inhaftiert. Nöthen liefert in diesen ersten Kapiteln seines Buches gleichzeitig eine lesenswerte Einführung in die brasilianische Zeitgeschichte zu den ‚bleiernen Jahren‘ der Militärdiktatur (1964 – 1985). 1980 stieg Lula dann zur wichtigsten Figur der von ihm mitgegründeten Arbeiterpartei (PT) auf. Es folgten drei gescheiterte Kandidaturen bei den Präsidentschaftswahlen. Der Underdog aus der Favela mischte das oberschichtsdominierte Politikestablishment aber von Anfang an auf und schaffte es, die extreme soziale Ungleichheit und die Ausgrenzung der Armen in den Fokus zu rücken.

Dank taktischer Neuaufstellungen und Allianzen bis weit hinein in die politische Mitte gelang ihm 2002 im vierten Anlauf der Wahlsieg. Die umfangreichen Sozialtransferprogramme für Millionen Menschen in Armut und extremer Armut wie »Bolsa Família« und »Fome Zero« wurden zum Markenzeichen der Lula-Regierung und verschafften dem Präsidenten Zustimmungswerte von 80 Prozent samt internationalem Kultstatus. Barack Obama formulierte es vor dem G20-Gipfel 2005 so: »Dieser Mann ist der beliebteste Politiker des Planeten.«

Nöthens eigentliches Thema, das diese Biografie wie ein roter Faden durchzieht, ist die provokante Frage, ob es so etwas wie »gute Korruption« geben kann. Rechtfertigen unbestreitbare Erfolge bei der Armutsreduzierung die Korruption und den Nepotismus in der Regierungspartei PT? Akribisch seziert der Autor die Skandale um Abgeordnetenkäufe oder die von Brasilien aus nach ganz Lateinamerika exportierte Praxis systematischer Bestechung und krimineller Geldwäsche durch Konzerne wie den Bauriesen Odebrecht oder das Staatsunternehmen Petrobras. Auch wenn Nöthen Lula konzediert, sich nicht selbst bereichert zu haben – für das System endemischer Korruption und Bestechlichkeit um sich herum trägt er nach Auffassung des Autors eine politische Mitverantwortung. Diese lastet jetzt wie ein dunkler Schatten auf dem neuen Mandat und dient Lulas Gegner*innen, wie zuletzt bei dem brutalen Sturm auf die drei Gebäude von Legislative, Exekutive und Judikative in Brasilia, als Begründung für die Forderung nach einer Intervention des Militärs und der Annullierung der Wählerentscheidung vom 30. Oktober 2022.

Das Fazit dieser gelungenen Biografie: Nur wenn es gelingt, konsequent aus den Fehlern der beiden ersten PT-Präsidentschaftsperioden zu lernen und durch eine transparente, gute Regierungsführung zumindest einen Teil derjenigen, die gegen ihn gestimmt haben, für sich zu gewinnen, gibt es eine Chance, die extremen gesellschaftlichen Verletzungen am Ende der vier Jahre unter Bolsonaro etwas zu heilen. Dafür müssen es Lula und seine Viel-Parteien-Regierung aber schaffen, sich die Loyalität von Militär und Polizei zu sichern – und das ohne Korruption.

Andreas Nöthen: Luiz Inácio Lula da Silva – Eine politische Biografie. Mandelbaum Verlag, Wien 2022. 256 Seiten, 20 Euro.

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