Buchcover von In die andere Richtung jetzt von Navid Kermani, Rezension

Reportagen gegen das Vergessen

Rezensiert von Georg Lutz

07.04.2025
Veröffentlicht im iz3w-Heft 408

Journalist*innen, die spannende Reisereportagen schreiben und sich Zeit nehmen, Menschen zuzuhören, findet man immer seltener. Es ist schlicht kein Geld da und die Verlagsverantwortlichen hangeln sich von Sparrunde zu Sparrunde. Es zählen Klickzahlen, und Reportagen aus fremden Ländern sind da weniger hilfreich. Wer dann noch auf einen anderen Kontinent wie Afrika schaut, trifft auf ein trostloses Szenario. Wenn nicht gerade ein neuer Krieg tobt, sitzen die Korrespondent*innen in Nairobi oder Kapstadt, bearbeiten Agenturmaterial und legen meist vereinfachende Schablonen auf einen ganzen Kontinent. Vor Ort sind sie schon lange nicht mehr. Das war vor einigen Jahrzehnten, ältere Semester werden sich erinnern, noch anders. So haben beispielsweise Bruce Chatwin oder Ryszard Kapuściński aus dem Reisejournalismus eine eigene literarische Gattung geschaffen. Solche Qualitäten findet man heute kaum mehr, wenn es um journalistische Texte von europäischen Autor*innen aus Afrika geht.

Er ist vor Ort ganz nah an den Menschen und hat trotzdem die Rahmenbedingungen im Reiserucksack.

Das aktuelle Reisebuch von Navid Kermani In die andere Richtung jetzt ist eine positive Ausnahme. Er ist vor Ort ganz nah an den Menschen und hat trotzdem die Rahmenbedingungen im Reiserucksack. Er analysiert mit fast vergessenen Theoretiker*innen wie Simone Weil und Aimé Césaire koloniale Strukturen, die bis heute wirkungsmächtig sind. Die Bücher im Flugzeug bilden den theoretischen Unterbau. »Please come immediately to the gate« – und einige Stunden später stürzen wir uns in afrikanische Realitäten.

Kermanis Reise beginnt im Süden von Madagaskar. Dort haben die Vereinten Nationen die erste Hungersnot, die primär vom Klimawandel verursacht wurde und wird, ausgerufen. Wir in Mitteleuropa sind die happy few, die das Thema immer wieder verdrängen können. Weiter geht es über die Komoren, Mosambik, Tansania, den Sudan und Äthiopien.

Das verknüpfende Band bildet bei Kermani die Musik. Bei den Jamsessions in Hinterhöfen und öffentlichen Plätzen schöpfen die Beteiligten immer wieder Mut und Kraft. Es geht dabei nicht nur um Stars wie Abdullah Ibrahim aus Südafrika oder den Äthiopier Mulatu Astatke. Auch Madagaskar hat eine spannende Jazzszene. Nach der lebendigen Lektüre von Navid Kermani wollen wir diese Musik unbedingt kennenlernen, die Playlist wartet schon.

Navid Kermani: In die andere Richtung jetzt. Eine Reise durch Ostafrika. C.H. Beck, München 2024. 272 Seiten, 26 Euro.

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