Cover von »Krieg in Europa« mit dunkelm Hintergrund

Zerfalls­kriege in Euro­pa

Rezensiert von Larissa Schober

17.08.2023
Veröffentlicht im iz3w-Heft 398

Zu Beginn des Angriffskrieges auf die Ukraine war viel die Rede vom ersten Krieg in Europa seit 1945. Das Buch Krieg in Europa beschäftigt sich ausführlich mit jenen Kriegen, die in dieser Formulierung komplett ausgeblendet werden: den jugoslawischen Zerfallskriegen der 1990er-Jahre. In sieben Kapiteln widmet sich der Journalist Norbert Mappes-Niediek chronologisch den Kriegen, vom verhältnismäßig unblutigen 10-Tage-Krieg in Slowenien 1991 über den Kroatien-Krieg ein Jahr später bis zum Bosnienkrieg 1992 bis 1995. Das ist der brutalste und längste dieser Kriege und der Autor behandelt ihn mit drei Kapiteln am ausführlichsten. Das Buch endet mit dem Kosovo-Krieg 1999 und einer Schlussbetrachtung.

»Krieg in Europa« ist ein überfälliges Buch: Auf Deutsch sind verhältnismäßig wenige Auseinandersetzungen mit den Zerfallskriegen im ehemaligen Jugoslawien erschienen. Noch weniger solche Bücher, die nicht in die eine oder andere Richtung Fakten verdrehen, um Partei zu ergreifen. Gleichzeitig ist in Deutschland wenig Wissen über die Region und über den blutigsten Konflikt in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg vorhanden.

Wer diese Wissenslücke beheben möchte, sollte das kenntnisreiche Buch lesen. Mappes-Niediek arbeitete in den 1990er-Jahren als Korrespondent auf dem Balkan und war 1994/95 Berater von Yasushi Akashi, dem damaligen UN-Sonderbeauftragten für das ehemalige Jugoslawien. Das sehr gut recherchierte Buch geht für neu Einsteigende vielleicht etwas zu sehr ins Detail, der reportagenartige Stil ist Geschmackssache und hilft nicht immer, um den Überblick im unübersichtlichen Konfliktgeschehen zu behalten. Die ergänzenden Karten und eine Chronologie im Anhang helfen jedoch bei der Orientierung ungemein, sodass das Buch sich insgesamt auch als Einführung eignet. Gleichzeitig geht das Buch über eine Nacherzählung der Kriege hinaus und ist spannend für jene, die sich bereits mit dem Thema beschäftigt haben. So zieht Mappes-Niediek Dokumente heran, die erst seit Kurzem zugänglich sind. Mit ihnen zeichnet der Autor die Motivation der einzelnen Kriegsakteure nach, räumt dabei mit einigen Mythen auf und führt unaufgeregt ein grundsätzliches Dilemma diplomatischer Verhandlungen vor Augen: Es gibt keine neutralen Verhandlungen. Was in der Regel darunter verstanden wird, nämlich gleichen Abstand zu allen Seiten zu halten, bedeutete etwa im Bosnienkrieg die Bevorteilung der mächtigeren Seite. Nicht nur für diese Einsicht lohnt sich das Buch.

Norbert Mappes-Niediek: Krieg in Europa. Der Zerfall Jugoslawiens und der überforderte Kontinent. Rowohlt Verlag, Berlin 2022. 400 Seiten, 32 Euro.

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