Filmcover von »Mi país imaginario«, eine vermummte Aktivistin mit Blumenschmuck

»Als hätte es Steine geregnet«

Rezensiert von Pauline Kratzat

17.08.2023
Veröffentlicht im iz3w-Heft 398

Von einem Tag auf den anderen bricht 2019 in Chile eine soziale Revolte aus. Der chilenische Dokumentarfilmer Patricio Guzmán hat in seinem Film Mi país imaginario – Das Land meiner Träume mit Filmaufnahmen, Interviews und Bildern den Weg des Aufstandes festgehalten. Damit wird nachvollziehbar, dass und wie Chile vom Oktober 2019 bis Januar 2020 eine Revolution erlebt hat. Guzmán begleitet die sozialen Bewegungen Chiles schon seit knapp 50 Jahren. In La Batalla de Chile (1975) gab er Einblicke in die Zeit unter Präsident Allende. Sein neuer Film handelt von der wieder  aufgeflammten Hoffnung, dass ein freieres und gerechteres Chile möglich ist. Er zeigt in eindrucksvollen Bildern eine Chronologie der Proteste, die über Straßenkämpfe und Demonstrationen mit 1,5 Millionen Menschen in eine Bewegung für eine Verfassungsänderung mündete.

Am Anfang rebellieren die Schüler*innen, doch immer mehr Menschen aus allen Altersklassen kommen dazu. Viele Menschen in Chile fordern mehr soziale Gerechtigkeit, besseren Zugang zu Bildung und eine funktionierende Gesundheits- und Altersversorgung. Das Land leidet noch immer unter den Auswirkungen der Militärdiktatur Pinochets und lebt unter dessen Verfassung.

Steine sind im Film ein zentrales Symbol der Proteste. Die Fotografin Nicole Kramm (iz3w 387) beschreibt sie als »Waffen des Zorns«. Im Hintergrund des Films ist immer wieder das Geräusch zu hören, wie sie aus dem Pflaster herausgebrochen und zerkleinert werden. Die Steine sind die Waffe der Protestierenden. Sie machen damit Lärm oder schleudern sie den Wasserwerfern und Panzerfahrzeugen entgegen. Die Antwort von Polizei und Militär ist massive Gewalt. Unzählige Protestierende werden verletzt und einige sterben.

»Mit der Revolte bin ich aufgeblüht«

Doch es gibt nicht nur Straßenkämpfe. Drohnenaufnahmen zeigen riesige, friedliche Demonstrationen, die sich vom Plaza de la Dignidad in Santiago in die umliegenden Straßen erstrecken; oder Aufnahmen von 10.000 Frauen, die gemeinsam die viral gegangene Choreografie und Hymne Un violador en tu camino des Theaterkollektivs LasTesis performen. Die Wut, die Entschlossenheit und der Wunsch nach Veränderung werden über die Bilder eindrucksvoll transportiert. Eine Aktivistin sagt: »Mit der Revolte bin ich aufgeblüht.« Es gibt keine Angst mehr, über die Missstände zu sprechen. Die Menschen fühlen sich von der Politik getäuscht und in den Interviews wird über ein Gefühl des Erwachens gesprochen.

Ein Referendum entscheidet mit deutlicher Mehrheit, dass Chile eine neue Verfassung braucht. Eine divers aufgestellte verfassungsgebende Versammlung entwickelt einen Entwurf, über den 2022 abgestimmt werden soll. Elisa Loncón ist Präsidentin dieser Convención Constitutional und erste Mapuche-Angehörige in so einem Amt. Sie sagt jeden Tag zu sich »marichiweu«, das bedeutet: Sie werden uns nie besiegen oder Wir werden für immer siegen.

Der Film legt einen Fokus auf die Lebensrealität von Frauen in Chile und deren Wahrnehmung der Proteste. Mit ihrer Entschlossenheit spielen sie eine entscheidende Rolle bei dieser Revolution – die eine feministische ist. In den Interviews kommen ausschließlich Frauen zu Wort, die sich unterschiedlich an der Revolution beteiligen. Was sie eint, ist die Wut und die Hoffnung auf Veränderung. Lediglich die Rechtsanwältin Damaris Abarca spricht darüber was wäre, wenn die Revolution nicht gelingt und die neue Verfassung, die sie mitentworfen hat, beim zweiten Plebiszit abgelehnt wird.

Analog zum Anfang endet der Film mit Luftaufnahmen einer riesigen Versammlung nach dem Wahlsieg des linken Präsidenten Gabriel Boric. Ist der Weg von der Revolte zu einer Politikerrede wirklich so linear, wie Guzmán hier suggeriert? Zumindest kaschiert der Film an dieser Stelle Brüche in der Bewegung, die in Teilen auch eine anti-institutionelle war.

Als »Mi país imaginario« 2023 in die deutschen Kinos kommt, ist bereits der Fall eingetreten, den Damaris als ihr schlimmstes Szenario dargestellt hat: Eine eindeutige Mehrheit der Chilen*innen lehnt die neue Verfassung ab. Damit hinterlässt der Film ein bitteres Gefühl. Er macht die Veränderung überaus greifbar und spürbar. Doch die Revolution scheitert. Inzwischen wird der nächste neue Verfassungsentwurf maßgeblich von den siegreichen rechten Parteien erarbeitet. Das Land aus Guzmáns Träumen bleibt vorerst ein Traum.

Patricio Guzmán: Mi país imaginario. Das Land meiner Träume. Chile, Frankreich 2022, Real Fiction Filmverleih. Als DVD unter My Imaginary Country erhältlich.

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