Revanche der kriminalisierten Körper
Gegen transphobe Gewalt
Argentinien nimmt hinsichtlich der Gesetzgebung zu LGBTIQ*-Rechten weltweit eine Vorreiterrolle ein. Dennoch sind Menschen mit Trans*Identitäten extremer sexualisierter Gewalt ausgesetzt und von sozialer Teilhabe ausgeschlossen. Die Trans*Community kämpft lautstark dafür, diesen Widerspruch aufzuheben.
»In meinem Kopf ist ein Friedhof voller Namen« ist auf einem Plakat bei einer Demonstration gegen transphobe Gewalt in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires zu lesen. Es ist bereits die zweite Demonstration innerhalb eines Jahres, die anlässlich einer Reihe von Morden stattgefunden hat – ein Gritazo, ein Aufschrei der Trans*Community gegenüber der zunehmenden extremen Gewalt an Trans*Frauen und Travestis * in Argentinien.
Zwar hat es eine in den letzten Jahren erstarkte neue feministische Bewegung geschafft, Genderpolitik radikal auf die politische Agenda zu bringen und gesellschaftliche Debatten über die verschiedenen Formen sexualisierter Gewalt anzustoßen. Dennoch bleibt transphobe Gewalt immer noch weitgehend unsichtbar. »Wir sind nicht auf der emotionalen Agenda unseres Landes«, reklamiert Violeta Alegre, Trans*Aktivistin und Verantwortliche der Abteilung Diversität im Programm gegen sexualisierte Gewalt bei der Universität San Martín. »Der Tod einer Transe interessiert die Gesellschaft nicht besonders, es gibt keine Massendemos. Es sind immer nur wir selbst, die nach unseren Toten fragen.« Wenn Medien doch darüber berichten, dann skandalisierend, viktimisierend und mit einer Grausamkeit, die jener ähnelt, mit denen die Gewalttaten begangen werden.
Digitales Schnupperabo
Drei Monate schnuppern, lesen, schmökern.
»Die Erfahrung des Todes und der Verlust von Freundinnen und Bekannten ist alltäglich für uns«, sagte Lohana Berkins, die Anfang 2016 verstorbene Pionierin der argentinischen Travesti-Bewegung. Dabei sterben die meisten Trans*Frauen in Argentinien aus vermeidbaren Gründen wie sexuell übertragbaren Krankheiten oder Folgekrankheiten. Laut der im Jahr 2017 vom Menschenrechtsministerium der Stadt Buenos Aires zusammen mit Organisationen der Community erstellten Studie »Die Revolution der Schmetterlinge« sind allerdings Hate Crimes die zweithäufigste Todesursache. Sie werden oftmals mit einer extremen Brutalität gegen jene Körper ausgeführt, die historisch als Objekte des Anormalen moralisch disqualifiziert und als bedrohlich konstruiert wurden.
Aktivist*innen kämpfen für die Anerkennung transphober Morde vor Gericht als Travestizide, um die Taten innerhalb einer sozialen und strukturellen Problematik machistischer Gewalt einzuordnen. Travestizid müsse als Figur etabliert werden, die sich von der des Feminizids unterscheidet, so die Forderung. Dies soll die spezifische Exklusion sichtbar machen, der Trans*Frauen und Travestis in Argentinien in allen Lebensphasen ausgesetzt sind.
Transphobie mit System
Menschenrechts- und trans*aktivistische Organisationen sprechen in diesem Sinne oft von »sozialem Travestizid«, der sich in einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 35 Jahren für Trans*Personen gegenüber 77 Jahren in der Mehrheitsgesellschaft widerspiegelt. Die oft frühe Entfremdung aus den Familien, der baldige Austritt aus einem diskriminierenden Schulsystem aufgrund feindlicher und demütigender Erfahrungen und die damit verbundenen drastischen Zugangsbeschränkungen zum formellen Arbeitsmarkt führen dazu, dass die Prostitution * für viele Trans*Frauen die einzige Möglichkeit darstellt, ein Einkommen zu erzielen. Laut der »Revolution der Schmetterlinge« arbeiten 70,4 Prozent der Trans*Frauen und Travesti in der Prostitution, bei den 18 bis 29-Jährigen sind es neun von zehn. Gegenüber der Vorgängerstudie von 2005 haben sich alle Daten stark verbessert, insbesondere im Bereich Bildung. Aber noch immer produziert die systematische Diskriminierung eine strukturelle Gewalt, die dann wieder so konkret wird, dass sich diejenigen, die über 40 Jahre werden, als »Überlebende« bezeichnen.
Dabei gilt Argentinien nicht nur in Lateinamerika als eines der Länder mit der fortschrittlichsten Gesetzgebung hinsichtlich Genderpolitik und Rechten von LGBTIQ*-Personen. Bereits 2010 wurde eine Reform des Zivilrechts durchgeführt, die die gleichgeschlechtliche Ehe legalisiert. Es folgte das im Mai 2012 verabschiedete Gesetz zur Geschlechteridentität, von Organisationen und Aktivist*innen der Trans*Community selbst geschrieben und erkämpft, durch das alle Menschen ihr selbst definiertes Geschlecht ohne jedwede Voraussetzungen in Behörden und Ausweisdokumenten anerkennen lassen können. Das Gesetz wurde international als kleine Revolution gefeiert, auch wenn es konzeptionelle Lücken aufweist. Aber es bedeutet eine Annäherung an eine andere Art institutionelle Sicherheit: »Natürlich ist das mit dem Namen wichtig, aber es geht um die Anerkennung unserer Identität«, erklärte Diana Sacayán, eine der wichtigsten Referentinnen der Travesti-Bewegung, Vorkämpferin und Gesetzesmutter kurz vor ihrer Ermordung im Oktober 2015. »Und in dieser Anerkennung der Identität liegt das Eingeständnis des Staates, dass er vorher unsere Rechte systematisch verletzt hat, indem er uns das Recht abgesprochen hat, Subjekte und Staatsbürgerinnen dieses Landes zu sein.« Dieses Eingeständnis ist der Anfang einer nun geführten Debatte über eine staatliche Entschädigung für die erlittene institutionelle Gewalt für Menschen, die in den letzten Jahrzehnten aufgrund ihrer Geschlechteridentität oder sexuellen Dissidenz unrechtmäßig inhaftiert wurden.
Die Binarität aufbrechen
Für Laura Malacalza, Koordinatorin der Beobachtung von sexualisierter Gewalt der Ombudsstelle der Provinz Buenos Aires, liegt die Diskrepanz zwischen progressiver Gesetzgebung und extremer Gewalt und sozialer Ausgrenzung im Fehlen begleitender Programme zur Inklusion. »Der Staat hat zwar Identität und Rechte anerkannt, aber ohne Instanzen der ökonomischen und sozialen Umverteilung ist es nicht möglich, von Menschenrechten für die Trans- und Travesti-Community in Argentinien zu sprechen«, erklärt sie. »Es ist Verpflichtung des Staates, Politikprogramme zu schaffen, die den Zugang zu Gesundheit, Bildung, formaler Arbeit und politischer Partizipation ermöglichen.« Auch die Sicherheitskräfte üben durch Schikane, entwürdigende Personenkontrollen in der Öffentlichkeit und willkürliche Verhaftungen unverändert institutionelle Gewalt aus. Noch bis 2006 galten in Buenos Aires sogenannte Polizeiverordnungen durch die Trans*Identitäten prinzipiell kriminalisiert wurden. »Mitglieder der Community werden auch heute noch aufgrund von Praktiken verfolgt, die aus der Epoche des argentinischen Staatsterrorismus stammen, wie die ‚skandalöse Präsenz in der Öffentlichkeit’ oder das Tragen der Kleidung des anderen Geschlechts. Und die Justiz deckt die Verstöße der Polizeikräfte gegen die Menschenrechte«, empört sich Malacalza. Sie hat an dem im Jahr 2015 in der Provinz Buenos Aires verabschiedeten Gesetz mitgearbeitet, das eine Beschäftigungsquote von einem Prozent für Trans*Personen im Öffentlichen Dienst einführen soll – auch, um Alternativen für die Straße als Arbeitsplatz zu schaffen. Seither liegt das Gesetzesprojekt brach und wartet auf seine Reglementierung.
Neben Programmen zur Inklusion müssen die progressiven Gesetzesinitiativen auch mit der sozialen und kulturellen Anerkennung von Identitäten außerhalb männlicher und weiblicher Logiken einhergehen, mit einem Genderkonzept, das die Binarität aufbricht und um multiple Geschlechter erweitert. Das ist auch der Widerspruch, den das »beste Gesetz der Welt« in sich trägt, so Violeta Alegre. »Wir brauchen die Anerkennung unserer Identität, der Identität T. Auch im Ausweis muss es ein T wie Trans* geben. Gerade wir Travestis greifen die verpflichtende Hegemonie von männlich und weiblich an. Wir sprechen aus einer anderen Art von Weiblichkeit, die nicht Frau sein will. Der Neuentwurf dazu liegt im Trans.«
Es bleiben viele Herausforderungen, doch eine wichtige Weiche ist gestellt: Mit dem Gesetz hört der Travestismus auf, ein Verbrechen zu sein. Dadurch ändert sich der juristische Status der Trans*Community, die Konstruktion der Identität T muss allerdings weiterhin erkämpft werden und – darauf hat Lohana Berkins hingewiesen – ohne dabei den kritischen Wert des Andersseins zu verlieren. Berkins hat ihren Compañeras beigebracht, auf Grausamkeit mit Zärtlichkeit zu antworten. Die selbstdefinierte Rache der Travestis: Glücklich zu sein und alt zu werden.