Wahlwerbung mit Plakaten in Sur / Amed
Vor den Wahlen in Sur/Amed (Diyarbakır) | Foto: Lara Roth

»Die Menschen haben sich die Stadt zurück­erobert«

Interview über die Kommunal­wahlen in der Türkei und Kurdistan

Aus den Kommunalwahlen am 31. März zieht die Regierungspartei AKP mit einer historischen Niederlage. Die Wahlen waren ein Stimmungstest für die Politik von Präsident Recep Tayyip Erdoğan. In Kurdistan konnte die prokurdische Partei der Völker für Gleichberechtigung und Demokratie (DEM) 10 von 81 Provinzen für sich gewinnen. Ob die Wahlsieger*innen tatsächlich ihre Ämter antreten können, ist offen. Die iz3w sprach mit Lynn Heval, Lara Roth und Janosh Sari, die mit einer 120-köpfigen Delegation von europäischen Aktivist*innen in Kurdistan als Wahlbeobachter*innen zu Gast waren.

Das Interview führte Annalena Eble

05.04.2024

iz3w: Ihr wart als Wahlbeobachter*innen in der kurdischen Stadt Colemêrg (türk. Hakkâri) an der irakisch-iranischen Grenze. Wie ist nach den Wahlen die Stimmung in der Bevölkerung?

Lynn Heval: Als die Wahlergebnisse bekannt wurden, war die Stimmung sehr euphorisch. Die Menschen sind zu Hunderten vor das Parteibüro der DEM geströmt. Am Wahltag gab es sehr viel Polizei- und Militärpräsenz und am Abend war die Stadt dann voll mit feiernden und tanzenden Menschen. Polizei und Militär waren weg. Eigentlich sind Demonstrationen in Kurdistan fast unmöglich, da sie sofort gewaltsam unterdrückt werden. Die Menschen haben sich also die Stadt zurückerobert.

»Alte und Menschen mit Behinderung durften nicht selbst in die Wahlkabinen«

Gleichzeitig haben viele Menschen Zweifel, dass sich durch den Wahlsieg der DEM etwas verändert. Colemêrg steht, wie zahlreiche andere kurdische Städte, seit den letzten Kommunalwahlen unter Zwangsverwaltung der AKP. Die Zwangsverwaltung hat Colemêrg heruntergewirtschaftet. Es ist unsicher, ob die Kandidat*innen, die jetzt gewonnen haben, ihr Amt antreten können oder ob die Regierung sie erneut absetzt.

Lara Roth: Dennoch geben die Wahlergebnisse vielen Menschen Anlass zur Hoffnung. Wir waren mit 120 Wahlbeobachter*innen in Kurdistan – ich sage Kurdistan statt kurdische Gebiete, den Leuten hier ist das sehr wichtig. Auch, dass Menschen aus Europa kommen, macht vielen Hoffnung. Die kurdische Bevölkerung fühlt sich von der Weltgemeinschaft sonst sehr alleine gelassen. Daher war es wichtig, die Wahlen zu begleiten, auch um zu zeigen: Wir sehen euch. Da draußen gibt es Menschen, die sich für die Lage von Kurd*innen in der Türkei interessieren. Dafür wurde uns sehr viel Dankbarkeit entgegengebracht.

Was könnt ihr vom Wahlvorgang berichten, speziell auch aus Colemêrg?

Janosh Sari: Die Militärpräsenz am Wahltag war allgegenwärtig. Um in die Stadt zu gelangen, mussten wir einige militärische und polizeiliche Checkpoints passieren. In der Stadt selbst gab es viele gepanzerte Fahrzeuge, ein Helikopter kreiste extrem tief über der Stadt. Die versuchte Einschüchterung während der Wahl war deutlich spürbar. Es gab schon vor den Wahlen Bestechungsversuche, zum Beispiel durch den AKP-Kandidaten Ismet Ölmez, der als einer der 60 reichsten Personen der Türkei Schecks verteilte und kostenlosen ÖPNV über drei Monate anbot. Uns wurde berichtet, dass in Colemêrg und anderen Städten ganze Busse mit Polizist*innen und Militärs einfuhren, die kurzfristig in den Gemeinden angemeldet wurden und Stimmen für die AKP abgeben sollten. Allein im Nachbarort Yüksekova wurden fünf solcher Busse gesichtet.

In den Wahllokalen selbst war die Stimmung unterschiedlich, je nach Stadtteil. Auf dem Gelände eines Wahllokals in einem AKP-starken Stadtteil zählten wir mindestens 30 Polizist*innen vor und weitere im Wahllokal. Unsere Pässe wurden kontrolliert.

Wir durften das Wahllokal zuerst betreten. Als wir mit einem Mitglied der DEM ins Gebäude gingen, wurden wir kurze Zeit später rausgeschickt und bedroht. Daraufhin wurden wir für den restlichen Tag von der Polizei auf Schritt und Tritt verfolgt, sodass wir unserer Arbeit, der unabhängigen Wahlbeobachtung, nicht mehr nachgehen konnten.

L.R.: Zudem erfuhren wir, dass Menschen mit Behinderung oder alte Menschen nicht selbst in die Wahlkabinen gehen durften. Ihre Stimmabgabe wurde vom jeweiligen Wahlleiter übernommen, der meistens von der AKP gestellt wurde. So fand auch Wahlbetrug statt. Das fiel einmal auf, als eine ältere Frau den Wahlzettel vor dem Einwurf kontrollieren wollte und die falsche Partei angekreuzt war. Die Frau hat darauf bestanden, noch mal wählen zu dürfen, dem wurde stattgegeben. Am Ende konnten wir anhand einer Liste feststellen, dass vermutlich 70 Stimmen allein in Colemêrg davon betroffen waren.  

L.H.: Ich fand es auch spannend, dass der sogenannte Wahlleiter, immer jemand von der Regierung ist. Ein solches parteigebundenes Amt hat nichts mit einem unabhängigen Wahlvorgang zu tun.  

Können diese Wahlmanipulationen angezeigt werden?

L.R.: Unter der AKP-Regierung ist es, glaube ich, nicht möglich, über den Rechtsweg irgendwas zu erreichen. Wichtiger ist internationaler Druck. Dass in der Türkei Wahlbetrug passiert, ist kein Geheimnis. Auch der Europarat hat Abgeordnete für die Wahlbeobachtung geschickt. Das Problem ist aber, dass die dann vor allem im Westen der Türkei eingesetzt werden, in den großen Städten wie Istanbul, Ankara oder Trabzon. Gerade im weniger AKP treuen Osten, also in Kurdistan, bleibt weitgehend unsichtbar, was genau passiert. Offizielle Institutionen in Europa blenden Kurdistan als stark unterdrücktes Gebiet meistens aus. Deshalb gibt es unsere 120-köpfige Delegation an Wahlbeobachter*innen, die explizit in Kurdistan eingesetzt wurde. Unsere Aufgabe ist sozusagen, einen alternativen Bericht zu jenem des Europarats zu erstellen.

Die militärische und polizeiliche Präsenz am Wahltag, die ihr beschreibt, ist heftig. Wie sieht das in einer kurdischen Stadt wie Colemêrg im Alltag aus?

J.S.: Die Leute berichteten, dass diese Militärpräsenz schon sehr alltäglich ist. Zwar war es am Wahlabend weniger, aber das ist wohl eher temporär. Viele gehen davon aus, dass sich das Militär nach der Wahlniederlage erstmal zurückziehen und dann mit erhöhter Präsenz zurückkehren wird.

»Die Militärpräsenz am Wahltag war allgegenwärtig«

L.H.: Auf unserem Rückweg aus der Stadt fuhren wir durch zehn Militär-Checkpoints. Ein Freund vor Ort erzählte, dass es ganz normal sei, kontrolliert zu werden, wenn man raus aus der Stadt oder in die Stadt hinein will. Ein Gefühl von Kriegszustand ist dort durch diese Militärpräsenz eigentlich immer vorhanden. Als Mitglied der DEM ist man noch größerer Repression ausgesetzt. Sobald du in der Partei bist, werden Akten über dich angelegt und du kannst keine Berufe mehr ausüben, die irgendwie an staatliche Institutionen geknüpft sind. Das hält viele Menschen, die der Partei eigentlich nahestehen, davon ab aktiv zu werden.

L.R.: Das liegt auch daran, dass Kurd*innen in der Türkei grundsätzlich unter Terrorismusverdacht stehen. Und im Fall von Colemêrg ist die Repression besonders massiv, aufgrund der Lage an der irakisch-iranischen Grenze und weil die Bevölkerung komplett kurdisch ist. Für Menschen dort ist diese Form von Militärbesatzung alltäglich. Es gehört zum Alltag, abgehört zu werden. Im Innenstadtbereich gab es ein Gebäude mit Abhörtechnik aus dem die Menschen auf der Straße belauscht wurden. Das hört sich an wie in einem schlechten Film, für die Leute dort ist es Realität.

Der Sieg der DEM-Kandidaten Abdullah Zeydan und Neslihan Şedal für die Provinz Wan (türk. Van) wurde zwei Tage nach der Wahl für ungültig erklärt und nach den darauffolgenden massiven Protesten vom Obersten Wahlrat schließlich doch anerkannt. Bereitet sich die DEM auf weitere Zwangsverwaltungen wie nach den letzten Kommunalwahlen vor?  

J.S.: Dazu gab es unterschiedliche Meinungen. Der Vorstand der DEM in Colemêrg meinte, dass sie es nicht für realistisch halten, dass überall erneut Zwangsverwaltungen eingesetzt werden, weil die DEM mehr Provinzen für sich gewonnen hat und weil die AKP nicht mehr so stark ist wie vor fünf Jahren. Es gab allerdings von vornherein auch viele Stimmen, die meinten, die Regierung interveniere sowieso, wenn die DEM gewinnt. In Wan gingen die Menschen aus Protest gegen die Absetzungen sofort auf die Straße, obwohl sie wissen, in welche Gefahr sie sich begeben.

L.H.: Als am 2.4. das gewählte Bürgermeister*innen-Duo in Wan abgesetzt wurde, legte die DEM-Partei Einspruch ein. Tausende Menschen in anderen Städten schlossen sich den Protesten an. Ein Mitglied der DEM Partei, meinte: „Endlich wachen die Menschen wieder auf und kämpfen für ihre Rechte.“  Am 3.4. entschied die Wahlkommission dann, die eigentlichen Wahlsieger*innen anzuerkennen. Das ist ein wichtiger Schritt der Selbstermächtigung und gibt vielen Kurd*innen Kraft.

L.R.: Dass in Wan und in anderen Städten so viele Menschen demonstriert haben, ist sehr besonders, denn Demonstrationen sind in der Türkei seit 2016 eigentlich fast unmöglich. Es gibt nur wenige Demos, wie etwa am 8. März in Istanbul, mit 20-40.000 FLINTA* auf der Straße. Gleichzeitig ist bei vielen Menschen eine sehr starke Form von politischer Depression vorhanden. In Wan reagierte die Polizei mit Wasserwerfern und Tränengas, es wurde sogar scharf geschossen. Die Polizei ging also mit aller Härte gegen die Demonstrierenden vor und trotzdem holten diese sich etwas zurück, sie traten für ihre Rechte ein. Unsere Einschätzung ist, dass das Regime besonders in Kurdistan heftig zurückschlagen wird. Es ist wichtig, dass auch jetzt wo die Kommunalwahlen vorbei sind, weiter darüber gesprochen und geschrieben wird.

Welche Bedeutung haben die Kommunalwahlen für das Land selbst?

L.R.: Gerade in Kurdistan sind die Kommunalwahlen wichtig, um die Städte aus den Zwangsverwaltungen zurückzugewinnen, von der 90 Gemeinden betroffen sind. Durch die Wahlen holen sich die prokurdischen Kräfte ihre politische Handlungsmacht zurück und können sich wieder in der Gesellschaft verankern.

J.S.: Wenn man sich die Wahlkarte ansieht, wird auch deutlich, wie wichtig diese Kommunalwahlen sind. Kurdistan ist komplett lila (DEM) eingefärbt und man erkennt die politische Richtung, die diese Gegend eigentlich verfolgt. Da stecken viele Ideen drin, die kurdische Frage zu lösen und viele sozialistische Ansätze. Im Endeffekt ist es zentral, der AKP auf lokaler Ebene die Macht zu entziehen.

»Es gibt ein traditio­nelles Interesse daran, die kurdische Be­völkerung klein zu halten«

Wie steht die Opposition in der Türkei gerade da? Insbesondere in der kurdischen Community herrschte vor der Wahl Uneinigkeit darüber, ob man die prokurdische DEM oder die große CHP (Republikanische Volkspartei) unterstützen solle.  

L.R.: Diese Spaltung gibt es immer noch. Meine Analyse ist, dass man das an den unterschiedlichen Regionen festmachen kann. Was wir in Kurdistan hören oder erleben, ist eine sehr starke Kritik an dieser Frage, ob es strategisch gut ist, die CHP zu wählen.

Die Kritik daran ist so groß, weil die CHP eine kemalistische Partei ist und weil es innerhalb der Partei viel anti-kurdischen Rassismus gibt. Viele Kurd*innen, gerade hier in Kurdistan, vertrauen der CHP nicht. Denn auch dort, wo sie regiert, hat sich für die kurdische Bevölkerung eigentlich nicht viel verändert. Die letzten Parlamentswahlen haben gezeigt, dass auf die CHP zu setzen nicht heißt, dass diese im Umkehrschluss auch zu Verbündeten werden: Die CHP stimmte im Gegenzug für Stimmen aus dem rechtskonservativen Lager zu, die Zwangsverwaltungen in Kurdistan beizubehalten. An die DEM fordern daher viele, stärker auf eigene Kandidat*innen zu setzen.

Gleichzeitig wird die Partei gerade im Westen des Landes strategisch viel von Kurd*innen gewählt, eben weil sie nach regierenden AKP die nächstgrößere Partei ist. Und weil es für die Menschen, gerade in den großen Städten, schon einen großen Unterschied macht, ob die AKP oder die CHP regiert. Dahinter steht also primär die Hoffnung auf ein Ende des AKP-Regimes.

Bezogen auf die Wahlergebnisse im gesamten Land wird von einer historischen Niederlage für die AKP gesprochen. Worauf lässt sich diese Niederlage zurückführen?

L.H.: Wir hatten natürlich hier hauptsächlich Kontakt zu Menschen, die nicht die AKP gewählt haben. Deshalb können wir keine direkte Stimmung von hier nach außen tragen. Dennoch lässt sich sagen: Es ist zentral, dass die Türkei sich in einer massiven Wirtschaftskrise befindet mit Inflationsrate von 67 Prozent. Viele Menschen sind arbeitslos, können ihre Mieten nicht bezahlen, viele können sich keine Lebensmittel mehr leisten. Nach den letzten 21 Jahren unter Erdoğans Regierung gibt es einen gewissen Vertrauensverlust in der Bevölkerung.

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Durch den Sieg der CHP in den großen Metropolen und der DEM in Kurdistan ist Erdogan innenpolitisch geschwächt. Er scheint derweil weiter auf eine anti-kurdische Außenpolitik zu setzen und kündigte bereits kurz nach den Wahlen weitere militärische Offensiven im Irak und Syrien an. Funktioniert die Strategie, angesichts der wirtschaftlichen Lage und der grassierenden Inflation?

L.R.: Insgesamt gibt es schon eine sehr große Kriegsmüdigkeit. Diese Art der Kriegsführung kostet ein Land viel Kraft, auch wenn dadurch gleichzeitig neue Ressourcen erschlossen werden. Auch die Frage danach, wie sinnvoll dieser Krieg eigentlich ist, ist sehr präsent. Ich würde aber nicht so weit gehen zu sagen, dass ein Großteil der Bevölkerung es inhaltlich falsch findet, dass gegen Kurd*innen Krieg geführt wird. Dafür ist der anti-kurdische Rassismus in der türkischen Bevölkerung zu tief verankert. Es gibt ein traditionelles Interesse daran, die kurdische Bevölkerung klein zu halten und zu bekämpfen. Es ist also eher der wirtschaftliche Aspekt, der Fragen an den Krieg aufwirft.

Annalena Eble ist Mitarbeiter*in im iz3w.

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