»Er hat uns den Übergang zu sauberer Energie versprochen.«

Indigene und Klimaaktivist*innen kritisieren Bidens Zustimmung zum Willow Ölbohrprojekt in Alaska

Audiobeitrag von Meike Bischoff

26.05.2023
Teil des Dossiers Rohstoffe

Der Bundesstaat Alaska profitiert erheblich von den Steuereinnahmen dort tätiger Ölkonzerne. Die Finanzierung der Staatsausgaben ist ohne die Einnahmen aus der Ölindustrie aktuell kaum möglich. Daher hat auch die texanische ConocoPhillips, ein international tätiger Energiekonzern, einen enormen Einfluss in Alaska. Das vom ConocoPhillips beantragte und Anfang März 2023 grundsätzlich genehmigte Willow Projekt wäre das größte neuen Ölförderungsvorhaben in den USA, es soll über einen Zeitraum von 30 Jahren 600 Millionen Rohöl fördern, in bisher unberührten Regionen. Für den Schutz der Bevölkerung gibt es keine finanziellen Mittel. Umweltschützer*innen aus dem gesamten politischen Spektrum bezeichnen dies als Kohlenstoffbombe. Amy Goodman von Democracy Now! in New York sprach mit Siqiñiq Maupin am Nordpol in Alaska.


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Erstausstrahlung am 2. Mai 2023 im südnordfunk # 108

Joe Biden: Aber ich glaube, ich bin der Einzige - vielleicht nicht der Einzige, aber der Einzige, der kandidiert - der oben am Polarkreis war. Erinnern Sie sich an die große Ölkatastrophe, die sich dort ereignet hat? Ich war mit einem Hubschrauber über dem Nordpolarmeer und habe gesehen, was dort vor sich geht, wie die Gletscher zu schmelzen beginnen und wie die Karibus und alle anderen dort leben. Ich meine, dort oben ist eine Menge los. Und es ist ein wirklich gigantisches Problem. Und übrigens – keine Bohrungen mehr im Bundesgebiet, Punkt. Punkt, Aus, Fertig. Im Polarkreis hätte es besonders katastrophale Auswirkungen, wenn wir das tun würden.

Sprecherin: Wir hörten gerade den jetzigen US-Präsidenten Joe Biden während des Wahlkampfes im Jahr 2020. Als der damalige Präsidentschaftskandidat gefragt wurde, wie denn seine Haltung zu diesem Thema sei, sagte er explizit: »Ich bin absolut gegen Bohrungen in der Arktis.« Am 14. März 2023 hat Biden sein Wahlversprechen gebrochen: Seine Regierung hat ein Öl- und Gaserschließungsprojekt in Alaska genehmigt, das als Willow-Projekt bekannt ist – trotz massiven Widerstands. Damit wird grünes Licht für die Förderung von etwa 600 Millionen Barrel Rohöl gegeben. Das sieben bis acht Milliarden Dollar schwere Willow-Projekt soll täglich 180.000 Barrel Rohöl fördern und könnte in den nächsten 30 Jahren mehr als 240 Millionen Kubik Tonnen Treibhausgase produzieren, die in die Atmosphäre gelangen.

Klimaaktivist*innen und viele Indigene Gruppen hatten Biden aufgefordert, das Projekt abzulehnen, da es somit einer »Kohlenstoffbombe« gleichkäme. Die US-Regierung kündigte an, dass die Bohrungen sich auf weiteren 13 Millionen Hektar in der National Petroleum Reserve in Alaskas Region North Slope beschränken wird. Im Vorfeld der Genehmigung des Willow-Projekts versprach die Biden-Administration außerdem auch Schritte zur Reduzierung der Ölbohrungen in anderen Teilen der Arktis. Kristen Monsell vom Center for Biological Diversity – dem Zentrum für Biologische Vielfalt – kritisierte den Plan Bidens mit den Worten: »Ein Gebiet der Arktis zu schützen, um ein anderes zu zerstören ergibt keinen Sinn und hilft den Menschen und der Tierwelt nicht, die durch das Willow-Projekt in Mitleidenschaft gezogen werden.« Amy Goodman von DemocracyNow! Sprach mit Sidiñiq Maupin vom Nordpol in Alaska, Geschäftsführerin der Indigenen Selbstorganisation Sovereign Iñupiat for a Living Arctic (übersetzt in etwa 'Souveräne Iñupiat für eine lebendige Arktis').

Ein Gebiet der Arktis zu schützen, um ein anderes zu zerstören ergibt keinen Sinn.

Sidiñiq Maupin: Das Willow Gas- und Ölbohrprojekt ist das Größte, das es derzeit auf öffentlichem Land gibt: Ein riesiges Projekt, das in der Region North Slope Alaska durchgeführt werden soll. Die nächstgelegene Gemeinde wäre Nuiqsut. Es würde die Gemeinde, die bereits die Ölfelder Prudhoe Bay und Alpine in der Nachbarschaft hat, vollständig mit Öl- und Gasprojekten einkreisen. Und das ist nur der Anfang des Projekts, denn es könnte grünes Licht für weitere Bodenbeprobungen und Erschließungen geben. Und dieses Projekt würde so viel Kohlenstoff ausstoßen, dass sich die Emissionen sogar verdoppeln würden, obwohl Präsident Biden versprochen hatte, die CO²-Emissionen zu reduzieren. Alle seine Pläne zur Verringerung des CO2-Ausstoßes würden also durch dieses Projekt zunichtegemacht. Es würde also die Treibhausgasemission der USA verdoppeln.

Sprecherin: Warum haben sie so viel Zeit und Energie in den Protest gegen dieses Projekt investiert?

Sidiñiq Maupin: Ja, wir, also ich persönlich, versuche seit etwa vier Jahren, dieses Projekt zu bekämpfen. Auf einer persönlicheren Ebene: Meine Mutter lebt in Nuiqsut. Meine Familie stammt aus Nuiqsut. Und obwohl ich nicht dort aufgewachsen bin, empfinde ich eine tiefe Verbundenheit und Liebe zu dieser Gemeinde. 2018 wurde ich zu einem Planungstreffen für ein Luftqualitätsüberwachungssystem eingeladen. Derzeit ist das Unternehmen ConocoPhillips Eigentümer des einzigen Luftqualitätsüberwachungssystems in Nuiqsut und besitzt auch den größten Teil der Forschungseinrichtungen, die für die Sicherheit dieses Projekts erforderlich sind, damit es vorankommt. Wir haben uns also die zehn wichtigsten Schadstoffe angesehen, die ConocoPhillips ausstößt, und die der US-Umweltschutzbehörde vorgelegt werden müssen. Und wie haben uns die möglichen Auswirkungen angesehen, die diese Stoffe haben können wie Krebs, Atemwegserkrankungen und andere Dinge; sogar die Änderung des Geschlechts eines Kindes im Mutterleib von männlich zu weiblich. An dieser Sitzung nahmen auch Mitglieder der Gemeinde und ein Jugendrat teil, und viele von uns stellten fest, dass wir diese Krankheitsfälle in unserer Familie erlebt haben. Wir hatten eine Zunahme von Krebs und Atemwegserkrankungen beobachtet.

2012 gab es einen Blowout des spanischen multinationalen Öl- und Energiekonzerns Repsol. Der hat dazu geführt, dass ein Kind aus dem Dorf aus medizinischen Gründen evakuiert werden musste. Ein anderes hat seitdem dauerhafte Gesundheitsprobleme mit den Atmungsorganen. Viele Menschen haben Beschwerde eingereicht.

Vor kurzem gab es ein Gasleck in der Nähe von Nuiqsut auf dem Ölfeld von Alpine, und das Dorf wurde nicht evakuiert. Die Verantwortlichen sagten, der lokalen Bevölkerung ginge es gut. Aber viele Menschen haben sich selbst evakuiert, weil die Kinder über Übelkeit und Kopfschmerzen klagten und an Unwohlsein litten. Derzeit gibt es also keinen Plan, um die Evakuierung zu unterstützen oder die Sicherheit der Gemeinde Nuiqsut zu garantieren.

Die Arktis erwärmt sich viermal so schnell wie der Rest der Welt.

Als ich mehr über dieses Projekt und seine Folgen lernte, bemerkte ich, dass nicht nur die Auswirkungen auf die Gemeinde und die öffentliche Gesundheit erheblich wären, sondern auch die Auswirkungen auf das Klima. Die Arktis erwärmt sich viermal so schnell wie der Rest der Welt. Und während viele Menschen über den Klimawandel spekulieren, erleben wir ihn gerade. Im Fluss Yukon können die Menschen schon seit vielen Jahren nicht mehr fischen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Wir haben Karibus gesehen, die Anzeichen des Verhungerns zeigen. Wir beobachten, dass verschimmelte Fische auftauchen. Und das Bohrprojekt wird diese Probleme beschleunigen und zu Ernährungsunsicherheit und vielen, vielen anderen Schwierigkeiten führen, die nicht nur Nuiqsut oder die acht Gemeinden in der Region North Slope betreffen, sondern die gesamte Arktis. Und natürlich wird der Klimawandel sich auch auf die Menschen auf der ganzen Welt auswirken.

Aus diesen Gründen sind wir sehr besorgt über dieses Projekt, aber wir wollen auch von Öl und Gas wegkommen. Aber dieses Projekt hat uns für die nächsten 30 Jahre an Öl und Gas gebunden. Wir würden aber erst in zehn Jahren von den wirtschaftlichen Vorteilen profitieren. Das wäre eine Katastrophe für Biden, der versprochen hatte, dass er uns den Übergang zu sauberer Energie ermöglichen würde. Zudem ist besorgniserregend, dass kleine, ländliche Orte wie dieser immer wieder systematisch in eine wirtschaftliche Geiselhaft geraten. Ob Kohle- oder Goldbergbau, den Gemeinden wird immer wieder gesagt: Die einzige Möglichkeit, grundlegende Dinge wie fließendes Wasser, Sanitäranlagen und dergleichen zu erhalten, besteht darin, ihre Gesundheit, ihr Land, ihre Ernährungssicherheit zu opfern. Und dieses Projekt hat noch so viele weitere negative Folgen.

Amy Goodman: Der ehemalige US-Vizepräsident Al Gore, ein langjähriger Umweltschützer, sagte dem Guardian: »Die vorgeschlagene Ausweitung der Öl- und Gasbohrungen in Alaska ist rücksichtslos und unverantwortlich. Die dadurch verursachte Umweltverschmutzung wird nicht nur die Indigenen Alaskas und andere lokale Gemeinschaften gefährden, sondern ist auch unvereinbar mit dem Ehrgeiz, den wir brauchen, um eine Netto-Null-Zukunft zu erreichen. Wir müssen die fossile Brennstoffindustrie nicht mit neuen, mehrjährigen Projekten stützen, die ein Rezept für ein Klimachaos sind. Stattdessen müssen wir die Expansion von Öl, Gas und Kohle beenden und die reichlich vorhandenen Lösungen für das Klima nutzen, sagt er. Der New York Times zufolge wäre Willow das größte neue Ölförderprojekt in den Vereinigten Staaten, das über einen Zeitraum von 30 Jahren 600 Millionen Barrel Rohöl fördern soll. Die Verbrennung all dieses Öls könnte fast 280 Millionen Tonnen Kohlenstoffemissionen in die Atmosphäre freisetzen. Jährlich würde dies 9,2 Millionen Tonnen Kohlenstoffverschmutzung bedeuten, was der Zahl von etwa zwei Millionen zusätzlichen Autos pro Jahr entspräche. Die Vereinigten Staaten, zweitgrößte Umweltverschmutzer der Welt nach China, stoßen jährlich etwa 5,6 Milliarden Tonnen Kohlendioxid aus«, schrieb die New York Times. Umweltschützer*innen aus dem gesamten politischen Spektrum bezeichnen dies als Kohlenstoffbombe. Siqiñiq, sprechen Sie über ConocoPhillips und wer dieses Projekt vorangetrieben hat.

Wir würden aber erst in zehn Jahren von den wirtschaft­lichen Vorteilen profitieren.

Sidiñiq Maupin: Das Unternehmen ConocoPhillips hat einen großen Einfluss auf alles, was in Alaska passiert, politisch, lokal und in der öffentlichen Bildung. Und vor kurzem hat Rosemary Ahtuangaruak, die Bürgermeisterin von Nuiqsut, zusammen mit anderen Gemeinderatsmitgliedern und der Präsidentin der Indigenen Selbstorganisation Native Village of Nuiqsut einen Brief veröffentlicht, in dem es heißt, dass dieses Projekt nicht nur für die Menschen dort schädlich wäre, sondern auch klimapolitisch ein großer Fehler. Und wie wir gesehen haben, können wir ein solches Projekt nicht durchführen und gleichzeitig das globale Ziel der Reduzierung der Kohlenstoffemissionen erreichen. Das ist unmöglich.

Wenn wir auf dieses Projekt schauen, verstehen wir also die politischen Verbindungen, die Präsident Biden mit der Senatorin von Alaska, Lisa Ann Murkowski, hat. Murkowski ist eine Republikanerin, welche die Parteigrenzen überschreitet, weil sie wirklich will, dass dieses Projekt vorankommt. Daher glauben wir, dass Bidens Entscheidungen nicht auf Logik basiert oder darauf, was für seine Wähler*innen und die Bevölkerung am besten sind. Er trifft Entscheidungen, die auf dem Druck von politischen Führungskräften basieren. Und die vertreten Alaska nicht gut. Es sind schon so viele Dinge in der Arktis passiert, die rücksichtslos waren. Es mussten zum Beispiel zwölf Dörfer in Alaska aufgrund der Erosion, die vom Klimawandel verursacht war, umgehend umgesiedelt werden. Das Willow Projekt würde diese Probleme nur noch verschlimmern. Und für den Schutz der Bevölkerung gibt es keine finanziellen Mittel vom Bund.

Da Präsident Biden nun grünes Licht für dieses Projekt gegeben hat, bricht er nicht nur viele seiner Wahlversprechen, sondern geht auch das Risiko ein, dass unsere Welt weniger Chancen hat, die Herausforderungen zu bewältigen, denen wir aufgrund des Klimawandels gegenüberstehen.

Shownotes

  • Das Interview führte Amy Goodman von Democracy Now. Hier geht es zum Original
  • Die Umweltorganisation Earthjustice reichte am 14. März 2023 im Namen von Naturschutzgruppen eine Klage ein, um das Willow-Projekt zu stoppen
  • Ein Richter in Alaska versetzte den Umweltschützer*innen und den Aktivisti* der Indigenen Bevölkerung einen Schlag: Er entschied, dass ConocoPhillips mit dem Bau des acht Milliarden Dollar teuren Willow-Bohrprojekts, das die Regierung Biden im März genehmigt hatte, fortfahren kann. Die Gruppen, die den Bau stoppen wollten, versprachen, ihren Rechtsstreit fortzusetzen. Diese Nachricht veröffentlichte DemocracyNow! am 5. April 2023.

Meike Bischoff übersetzte und stellte den Beitrag zusammen. Das Interview führte Amy Goodman von Democracy Now!

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