Wie wollen wir wohnen?

Editorial

In der Nacht zum 6. Februar erschütterte ein gewaltiges Erdbeben der Stärke 7,8 die südöstliche Türkei und das nördliche Syrien. Neun Stunden später folgte ein zweites Beben der Stärke 7,5. Zehntausende Wohnstätten brachen »wie Kartenhäuser zusammen«, es war eine »Jahrtausendkatastrophe« wie im ersten Schock geschrieben wurde. Das Leid in der immensen Trümmerlandschaft ist unermesslich, die Zahl der Toten steigt zu Redaktionsschluss Mitte Februar in Tausenderschritten auf über 41.000.

Ein erstes Thema dabei ist der Wohnraum. Es sind die Zimmerdecken und Bauteile, die die Menschen beim Erdbeben umbringen. Und bei Minusgraden suchen über 1,5 Millionen Menschen neuen Schutz in Zelten, PKWs, Hotels oder öffentlichen Notunterkünften. Der Wohnraum gehört zum Ersten, was fehlt. Und die Art des Wohnungsbaus hat einen Einfluss darauf, ob ein Haus zusammenstürzt oder nicht. So entbrennt die erste politische Debatte mitten im Katastrophenschock um die Frage, ob die türkische Regierung genug getan hat, damit im gefährdeten Südosten erdbebensicher gebaut wurde.

Dieser Themenschwerpunkt wurde vor dem Erdbeben erstellt. Aber wie selbstverständlich taucht das Thema auf: »Jedes Gebäude muss Katastrophen standhalten«, fordert die pakistanische Architektin Yasmeen Lari. In Pakistan ist einerseits massenhaft bezahlbarer Wohnungsbau nötig. Andererseits haben die Rekordhitze im Sommer und die anschließende Flutkatastrophe gezeigt, dass beim Wohnungsbau auf sicheres Bauen zu achten ist. Dafür gibt es Lösungen. Lari nennt etwa eine bambusbasierte Bauweise. Der Belgrader Architekturingenieur Goran Petrović schwört hingegen auf jugoslawischen Spannbeton in der IMS-Bauweise. Zwischen diesen beiden sehr unterschiedlichen Materialien bestehen beim Bauen erstaunliche Gemeinsamkeiten: Die Bevölkerung soll mit komfortablem Wohnraum versorgt werden. In beiden Fällen wird ein standardisiertes Grundgerüst errichtet. Ab dem nächsten Schritt entscheiden die spezifischen Bedürfnisse.

Welt­weit führen Men­schen Kämpfe um das Menschen­recht auf Wohnen

Ein Blick in den Großraum Istanbul zeigt die Dimension des Wohnungs­baus in Zeiten der Ver­städterung: Die Bevölkerungs­zahl in der Metro­polregion stieg von 2,5 Millionen Menschen im Jahr 1975 auf über 15 Millionen heute. Ebenso expandierte die Stadt in die Fläche, etwa mit den sogenannten Gecekondu-Siedlungen (dt.: über Nacht hingestellt). Dabei bebauten Neuankömmlinge außerhalb der Stadt ein Stück Land mit improvisierten Behausungen. Teilweise wurden sie wieder abgerissen, teilweise aber entstanden daraus neue Istanbuler Stadtteile. Erdbebensicheres Bauen war für die mittellosen Ankömmlinge undenkbar. In der zwanzigjährigen Regentschaft unter Präsident Erdogan wurde eine Erdbebensteuer erhoben, doch sie floss in andere Kanäle ab. Gesetzliche Auflagen zur Erdbebensicherheit existierten zwar seit dem Erdbeben von Istanbul 1999, angewendet oder kontrolliert wurden sie nicht. Angesichts der Todesopfer in der Südosttürkei verbietet sich jede Gecekondu-Siedlerromantik über die informelle Stadtentwicklung durch Zugewanderte.

Bruna Rohling beschreibt ebenfalls diese klassischen Akteur*innen von Wohnungsbau und Verstädterung: Menschen auf der Flucht und Menschen, die migrieren, mit Blick nach Jordanien und Libanon. Hier sieht man, wie Städte heute von Geflüchteten besiedelt und mitgestaltet werden. In Verstädterungsprozessen zeigt sich immer wieder, dass der freie Markt die Versorgung der Bedürftigen mit bezahlbaren Wohnungen nicht hinbekommt oder sogar hintertreibt. Deshalb stellt die Juristin María Hernández Torrales das Modell des Community Land Trusts in Puerto Rico vor. Hier wird der Grund und Boden auf treuhänderische Weise an die oft finanzschwachen Bewohner*innen übereignet. Doch natürlich wird nicht nur in Städten gewohnt: Olaf Bernau blickt auf das Wohnen in den ländlichen Regionen der Sahel-Zone. Auch in dieser Lebenswelt sind die Prekarität des Wohnens und gesellschaftliche Marginalisierung eng verbunden.

Weltweit führen Menschen Kämpfe um das Menschenrecht auf Wohnen. Im Themenschwerpunkt gehen wir Fragen nach, die sich dabei stellen: In welche ‚Eigentumsform‘ kann Wohnraum transformiert werden? Welche Architektur prägt und ermöglicht welches soziale Miteinander? Wie lassen sich Aspekte der Care-Arbeit, etwa die Realität von Müttern und Sorgenden, mitdenken? Wie ist das Wohnen der Zukunft vereinbar mit Klimawandel, Naturkatastrophen, Sturm, Überschwemmung oder Hitze? Wie geht man damit in den existentiell betroffenen Ländern vor allem des Globalen Südens um?

Wohnen ist ein grundlegendes Thema, mit dem Menschen sich beschäftigen. In der dystopischen Katastrophenlandschaft wie derzeit in der Türkei und Syrien; oder bei der utopischen Stadtplanung entlang der Frage: Wie wollen wir wohnen?

die redaktion

Dieser Artikel ist erschienen im iz3w-Heft Nr. 395 Heft bestellen
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