
Menschlichkeit statt Rache
Berlinale zeigt Dokus über Hamas-Geiseln und Gaza-Athleten
Am 7. Oktober 2023 werden die israelisch-amerikanische Lehrerin Liat Beinin Atzili und ihr Mann Aviv von der Hamas aus dem Kibbuz Niz Or entführt. Kurz darauf beginnt der US-amerikanische Filmemacher Brandon Kramer die Familie mit der Kamera zu begleiten. Er dokumentiert, wie Liats Eltern und Kinder mit ihrer Angst und dem quälenden Warten umgehen – und er filmt in Kongress-Sälen und auf Demonstrationen, als Vater Yehuda in Washington für die Freilassung der Geiseln kämpft. Vor allem aber nimmt er sich Zeit, um die unterschiedlichen Sichtweisen innerhalb der Familie zu zeigen.
Yehuda ist Pazifist und scharfer Netanjahu-Kritiker. Sohn Netta, der den Terrorangriff direkt miterlebt hat, fordert Vergeltung. Liats Schwester und ihr Onkel, ein emeritierter Nahost-Historiker, leben in den USA und verurteilen Israels Gaza-Politik seit Langem. Kramer, selbst ein entfernter Verwandter, lässt Raum für die widersprüchlichen Vorstellungen. Sein Dokumentarfilm »Holding Liat« zeichnet ein intimes und komplexes Portrait einer Familie, die unter enormem Druck versucht, Kontroversen auszuhalten und das Leid der anderen nicht auszublenden. Als Liat nach 50 Tagen freikommt, erfährt sie, dass Aviv tot ist. Behutsam zeigt Kramer Liats Schmerz, aber auch ihr beeindruckendes Engagement für Versöhnung und Koexistenz.
»Holding Liat«, koproduziert von Hollywood-Regisseur Darran Aronowsky, wurde auf der Berlinale mit dem Dokumentarfilmpreis ausgezeichnet. »Manchmal kann ein Film etwas bewirken, wozu nichts sonst in der Lage zu sein scheint«, schrieb die Jury. »Holding Liat« zeige nicht den Weg der Rache, sondern den der Menschlichkeit, der uns auffordere, »uns um unsere Nachbarn zu kümmern, anstatt sie zu töten.«
Ein Gaza, das es nicht mehr gibt

In »Yalla Parkour« erzählt die Filmemacherin Areeb Zuaiter vom Schmerz, aber auch von den Hoffnungen und Sehnsüchten junger Palästinenser*innen. Vor zehn Jahren entdeckte sie im Internet erste Videos von Parkour-Springern in Gaza: Junge Athleten, die auf Hochhäuser und Kriegsruinen klettern, von steilen Mauern und Küsten springen, auf Stränden und Friedhöfen trainieren. Deren Ausgelassenheit habe sie an das Lächeln ihrer Mutter während ihrer gemeinsamen Besuche in der palästinensischen Heimat erinnert, erzählt die 44-Jährige.
»1, 2, 3, Palästina ist unsere Heimat«
Zuaiters Eltern wuchsen in Nablus auf und verließen Palästina kurz nach ihrer Geburt. Sie selbst lebt seit 2010 in den USA – und kennt wie ihre Mutter Heimweh, Schuldgefühle und die Sehnsucht nach Zugehörigkeit. 2015 kontaktiert Zuaiter Ahmed, den Kameramann der Parkour-Videos, und freundet sich mit ihm an. Er trainiert seit seinem neunten Lebensjahr, träumt von der internationalen Bühne, schickt ihr weitere Videos. »1, 2, 3, Palästina ist unsere Heimat«, rufen die Freunde lachend in die Handy-Kamera. Im Hintergrund hört man Explosionen. Parkour ist für die jungen Männer mehr als Sport, es bedeutet ein Stück Freiheit im Küstenstreifen, in dem sie eingesperrt sind.
2016 reist Zuaiter mit der Kamera nach Gaza. Sie begleitet Ahmed und seine Freunde an Lieblingsorte wie den zerstörten Flughafen von Rafah, dokumentiert aber auch die alltäglichen Schikanen und Einschränkungen. Als sich einer der Athleten bei einem Sprung lebensgefährlich verletzt, dauert es Tage, bis er den Gazastreifen für eine ärztliche Behandlung verlassen darf. »Es gibt keine Zukunft in Gaza«, ist Ahmed überzeugt. Nach mehreren gescheiterten Visaanträgen gelingt ihm die Ausreise zu einem internationalen Parkour-Wettbewerb. Heute lebt er in Schweden, erhält nach Jahren einen schwedischen Pass. Erst im September 2023 kann er wieder seine Familie und Freund*innen besuchen – auch davon erzählt der Film.
Die Dreharbeiten hat Areeb Zuaiter vor dem 7. Oktober 2023 abgeschlossen. Den Gazastreifen, wie ihn »Yalla Parkour« zeigt, gibt es nicht mehr. Fünf Mitglieder des Filmteams und der Parkour-Gruppe sind tot.