Mehr als Fluchtursachen
Rezensiert von Anni Eble
08.11.2022
Veröffentlicht im iz3w-Heft 392
»Migration nach Europa [ist] das Resultat einer langen und weitverzweigten Mobilitätsgeschichte in Westafrika.« Mit seinem Buch Brennpunkt Westafrika wendet sich Olaf Bernau gegen einen verkürzenden Blick auf Migrationsdynamiken. So geht das Buch über eine Bestandsaufnahme von Fluchtursachen hinaus: Diese bilden eher den Leitfaden, über den Bernau die Krisen in den westafrikanischen Ländern – und was diese mit Europa zu tun haben – differenziert in den Blick nimmt.
Ausgehend von der Bedeutung von Migration als einer tief verankerten Praxis in Westafrika kritisiert Bernau in den Anfangskapiteln die europäische Abschottungspolitik, die demnach auf fatalen Fehlschlüssen über Migrationsentscheidungen und das Ausmaß der Krisen in der Region basiert. Die Leser*innen werden dabei für die Fallstricke eines vereinfachenden, weiß-europäischen Blicks auf die Region sensibilisiert.
Aufbauend darauf sind die Hauptkapitel der Erörterung eines »historisch fundierten Verständnisses von Fluchtursachen« gewidmet. Immer wieder lädt Bernau dazu ein, hinter die Schlagwörter der Debatte um Fluchtursachen zu schauen und nach Zusammenhängen zu fragen: Wie etwa hängen schlechte Regierungsführung und zentralstaatliche Ordnung mit der Vernachlässigung der Landbevölkerung und der zunehmenden Gewalteskalation im Sahel zusammen? Um dies zu untersuchen, unternimmt der Autor große räumliche und zeitliche Sprünge, bis zurück in die Zeit von Sklaverei und kolonialer Herrschaft. Seine Ausführungen verdichtet Bernau mit Bezügen auf die Analysen afrikanischer und postkolonialer Denker*innen und zeichnet schließlich ein umfassendes Bild der »Vielfachkrise« in Westafrika.
Überdies wirft Bernau Schlaglichter auf die Lebensrealitäten unterschiedlichster Menschen und gibt den Leser*innen eine Idee davon, was es etwa konkret bedeutet in extremer Armut zu leben. Ihm gelingt es, das Ausmaß der Krisen deutlich zu machen, ohne diese zu verabsolutieren oder in einseitige, katastrophalisierende Darstellungen zu verfallen. Konstant ist vielmehr sein Blick für die Komplexität und die teils widersprüchlichen Lebensverhältnisse innerhalb dieser Krisen.
Eine weitere Konstante bildet die kritische Betrachtung der historischen und gegenwärtigen Rolle der ehemaligen Kolonialmächte und der europäischen Politik. In dieser Hinsicht ist das Buch, neben einer fundierten Analyse, auch ein ausdrückliches Plädoyer: Europa muss seine historische Verantwortung anerkennen und einen grundlegenden Kurswechsel gegenüber (West-)Afrika vollziehen.