Colonia Dignidad zwischen Folkloretourismus und Gedenkstätte

Hörbeitrag vom 5. Juli 2022 im südnordfunk #98

Audiobeitrag von Ute Löhning

12.11.2022
Teil des Dossiers Dark Tourism

Colonia Dignidad ist eine deutsche Siedlung in Chile, in der Oppositionelle gefoltert und ermordet, Bewohner*innen versklavt und vergewaltigt wurden – über Jahrzehnte, im Wissen deutscher und chilenischer Behörden. Inzwischen heißt die Siedlung Villa Baviera, sie lebt vom Tourismus im bayerischen Stil, Landwirtschaft und Immobilienunternehmen. Eine Gedenkstätte gibt es bis heute nicht. Wie kann das sein?


Skript zum Beitrag

Fährt man von Santiago de Chile aus drei Stunden auf der Ruta 5 Richtung Süden, so werben Schilder am Straßenrand für einen touristische Abstecher in die „Villa Baviera“, auf Deutsch das „Bayerische Dorf“. Das ist seit 1988 der offizielle Name der Siedlung, die als „Colonia Dignidad“ weltweit bekannt wurde: übersetzt etwa „Kolonie der Würde“.

Der deutsche Laienprediger Paul Schäfer hatte sie 1961 gegründet, gemeinsam mit rund 300 Anhänger*innen am Fuß der Anden. Unentlohnte Zwangsarbeit, sexualisierte Gewalt und Gehirnwäsche gehörten zum Alltag der Bewohner*innen der streng abgeriegelten Siedlung. Während der chilenischen Diktatur wurden Oppositionelle in der Siedlung gefoltert und ermordet.

Heute hat die Villa Baviera den Tourismus zum Geschäftsmodell gemacht. Viele Chilen*innen besuchen die Siedlung, so auch Franklin Urra und Natalia Sangüesa aus der 200 Kilometer weiter südlich gelegenen Großstadt Concepción. Sie kennen die Geschichte der Colonia Dignidad. Aus Berichten im chilenischen Fernsehen wissen sie auch von Folter und Mord an politischen Gefangenen. Bei ihrem Besuch sei das aber kein Thema: „Der touristische Bereich, wo wir Zugang haben, ist sehr modern. Da kommt man nicht auf die Idee, welche Grausamkeiten hier geschehen sind. Für die jüngere Generation wird das Geheimnis nicht aufgeklärt, man merkt nichts davon.“ So Franklin Urra.

„Der touristische Bereich, wo wir Zugang haben, ist sehr modern. Da kommt man nicht auf die Idee, welche Grausamkeiten hier geschehen sind.“

Bei vielen chilenischen Gästen stehen Natur, Erholung, Kulinarisches und die Neugier danach im Vordergrund, wie die Deutschen in dieser Kolonie heute leben. Rund einhundert Personen leben und arbeiten noch in der Villa Baviera. Die meisten haben Familien gegründet, was ihnen bis Anfang der 2000er-Jahre verboten war. Auch erst seit dieser Zeit dürfen die Bewohner*innen die Siedlung verlassen. Etwa hundert ehemalige Sektenangehörige sind nach Deutschland gezogen, ebenso viele an andere Orte Chiles.

Wirtschaftlich gesehen ist die Villa Baviera eine intransparente Firmenholding geschlossener Aktiengesellschaften mit Immobilienunternehmen, Landwirtschafts- und Tourismusbetrieb. Dazu gehören ein Restaurant im bayerischen Stil, mit Bier, Schweinshaxe und Sauerkraut auf der Speisekarte, ein Event-Service zum Beispiel für Hochzeitsfeiern und Feste mit bayerischer Blasmusik sowie ein Hotelbetrieb im Mittelklassesegment.

Zwischen Schweinshaxe und Blasmusik

Zwei weitere Gäste, Valentina Villegas und ihr Freund Diego Parra, stammen aus einem nahe gelegenen Dorf: „Wir kommen seit langem her, etwa zweimal im Monat. Heute haben wir die ‚Hot Tubes‘ gebucht, die Wannen mit heißem Wasser.“

Die Website der Villa Baviera bewirbt „deutsche Traditionen“ und „lebendige Kultur“ in „herrlicher natürlicher Umgebung“. Als besondere Attraktionen werden Treckingtouren zu nahegelegenen Berggipfeln angeboten, sowie Fahrten im Unimog über das Gelände und inzwischen auch geführte Rundgänge mit Bewohner*innen der Siedlung, die von ihrem jahrzehntelangen Leiden berichten.

Diese Art von Tourismus ist für Gabriel Rodríguez ein Affront. Er war 1975 als politischer Gefangener in der Colonia Dignidad und wurde dort gefoltert. Er hat überlebt und fordert heute ein Ende des Event-Tourismus in der deutschen Siedlung:  „Es ist gerichtlich bestätigt, dass viele Menschen hier gestorben sind. Wir sagen „Nein“ zum Tourismus in Colonia Dignidad! Überall auf der Welt sind Plätze, an denen gefoltert und gemordet wurde, heute Orte der Erinnerung, der Reflexion und des Friedens. Da ist kein Raum für Zirkus, Geldmacherei und Parties.

Stattdessen müssten Folter und Verschwindenlassen an diesem Ort aufgeklärt und dokumentiert werden, fordert Gabriel Rodriguez. Denn nach dem Putsch gegen den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende 1973 hatte der chilenische Geheimdienst DINA (Dirección de Inteligencia Nacional) ein Gefangenenlager auf dem Gelände der deutschen Siedlung errichtet. Hunderte Oppositionelle wurden dort gefoltert, Dutzende ermordet. Ihre Leichen wurden in Massengräbern verscharrt, teils später wieder ausgegraben und verbrannt, ihre Asche im nahe gelegenen Fluss Perquilauquén verstreut. Keine der mutmaßlich fünfzig bis einhundert in der Colonia Dignidad verschwundenen Personen konnte bisher identifiziert werden. Forensische Archäologen suchen nach den sterblichen Überresten einiger ermordeter Gefangener, die noch in Massengräbern auf dem Gelände vermutet werden.

Kein Ort für Frieden und Gedenken

Denn die Angehörigen der Verschwundenen finden bis heute keine Ruhe. Zum Beispiel die 69-jährige Margarita Rojas Vásquez. Sie ist in Villa Rosa, einem Dorf nahe der Colonia Dignidad aufgewachsen. Ihr ältester Bruder Gilberto und ihr Vater Miguel Rojas wurden im Oktober 1973, einen Monat nach dem Putsch unter General Augusto Pinochet, verschleppt und mutmaßlich in der deutschen Siedlung ermordet.

Margarita Rojas Vásquez: „Mein größter Wunsch ist, zu wissen, was mit meinem Vater und mit meinem Bruder geschehen ist. Zu wissen, ob sie dort begraben oder ins Meer geworfen wurden. Wenn sie mir nur einen kleinen Knochen von ihnen geben, würde ich den aufheben. Wir haben immer alles getan, was wir konnten, um unseren Vater und unseren Bruder zu finden. Aber nie haben wir eine Antwort bekommen.“

„Es ist gerichtlich bestätigt, dass viele Menschen hier gestorben sind. Wir sagen „Nein“ zum Tourismus in Colonia Dignidad! “

Schon 1973 hatte die Familie Anzeige erstattet. Das Verfahren ist bis heute nicht abgeschlossen, der Verbleib ihrer Angehörigen und die Verantwortlichen für deren Verschwinden sind nicht geklärt. Margarita Rojas Vásquez lebt eine Autostunde nördlich der deutschen Siedlung in Linares. Zusammen mit anderen Angehörigen von Verschwundenen aus der Region organisieren sie Kundgebungen und Gedenkveranstaltungen für die Verschwundenen in der Ex Colonia Dignidad. Sie fordern Aufklärung des Schicksals ihrer Angehörigen und einen Ort der Erinnerung:

Margarita Rojas Vásquez: „Wir wollen, dass es auf dem Gelände der Colonia Dignidad eine Gedenkstätte gibt. Da sollen die Geschichten all dieser Familien erzählt werden, und wie es uns ergangen ist. Es geht nicht nur um ein Mahnmal oder einen Gedenkstein. Vielmehr soll es eine Ausstellung geben, wo die Besucher*innen und auch die Jugendlichen erfahren, was dort geschehen ist: dass die Colonia Dignidad den Militärputsch unterstützt hat und daran beteiligt war, viele Gefangene verschwinden zu lassen, darunter so hervorragende Menschen wie meinen Vater, meinen Bruder und viele andere.“

Einen nach wissenschaftlichen Kriterien gestalteten Gedenk-, Dokumentations- und Lernort auf dem Gelände der Villa Baviera zu errichten, das entspricht auch einer Forderung aus dem Beschluss zur Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad, den der Deutsche Bundestag 2017 einstimmig gefasst hat. Ein deutsch-chilenisches Expert*innen-Team hat im Auftrag einer bilateralen Kommission der Regierungen Chiles und Deutschlands ein Konzept für einen Gedenk- und Dokumentationsort entwickelt. Die Leiterin der Gedenkstätte Bergen-Belsen, Elke Gryglewski, ist Teil dieses Teams: „Diese Gedenkstätte soll unterschiedliche Funktionen haben. Sie soll zum einen ein Ort sein, wo mit einer Ausstellung die Geschichte der Colonia Dignidad ab 1961 erzählt wird. Es soll eine Möglichkeit eines Gedenkortes sein. Für die chilenischen Opfer soll es wirklich ein Mahnmal geben, was nochmal was Anderes ist als eine Ausstellung. Und es soll die Möglichkeit geben eines Archivs mit Sammlungstätigkeit und einer Bildungseinrichtung mit Bildungstätigkeit.“

bestuhltes Restaurant im bayrischen Stil
Restaurant Zipfelhaus in der Villa Baviera - der ehemaligen Colonia Dignidad | Foto: Ute Löhning

In historisch bedeutsamen Gebäuden sollen Ausstellungen eingerichtet werden, die die Geschichte und das Leid der verschiedenen Betroffenengruppen erzählen. Dazu gehören neben den Angehörigen der Verschwundenen und den in der Colonia Dignidad gefolterten Gefangenen auch chilenische Missbrauchsopfer, Zwangsadoptierte und von dem Gelände vertriebene Familien von Landarbeiter*innen sowie die deutschen Siedlerinnen und Siedler. In anderen Bereichen der Villa Baviera, außerhalb der historisch bedeutsamen Gebäude, könnten die jetzigen Bewohner*innen weiterhin wohnen, arbeiten, auch Unterkunft und Gastronomie anbieten, meint die Expertin.

Elke Gryglewski: „Man kann nicht die ganze Villa Baviera in eine Gedenkstätte umwandeln, das ist nicht machbar. Eine Gedenkstätte, um zu existieren, braucht lebendiges Leben um sich herum. Ich kann keine Gedenkstätte irgendwo in den Wald stellen, wo nicht auch Leben ist, das geht als Konzept unter.“

Zu einer inzwischen von den Bewohner*innen in Eigeninitiative eingerichteten Ausstellung mit Fotos und Alltagsgegenständen aus ihrem Leben in der Siedlung erklärt Elke Gryglewski: „Ich finde dass man wertschätzen muss, … dass diese Ausstellung im besten Wissen und Gewissen gemacht worden ist, um die Geschichte zu präsentieren. Und diese Gegenstände, die dort in dieser Ausstellung sind, sind sehr hochwertig und müssten unbedingt in eine professionell erarbeitete Ausstellung eingehen.“

Allerdings gebe es in der Gedenkstättenpädagogik bestimmte Standards, um Besucher*innen nicht zu überwältigen und keinen Raum für Voyeurismus zu schaffen. Elke Gryglewski: „Und um etwas lernen zu können, muss so eine Ausstellung ein Narrativ haben, eine Idee davon, was die Ausstellung vermitteln soll. Was sollen die Gruppen lernen? Und anhand solcher Kriterien muss dann entsprechend der Standards eine Ausstellung erarbeitet werden. Das können diese Betroffenen nicht selber machen, weil sie viel zu sehr selbst emotional involviert sind.“

Die Rolle der Betroffenen sieht die Gedenkstättenexpertin zum einen darin, dass sie als Zeitzeug*innen an Bildungsgesprächen teilnehmen. Und zum anderen sollten sie in einem Beirat vertreten sein, in dem sie ihre Meinung einbringen können. Damit ein Gedenk-, Dokumentations- und Lernort auf dem Gelände der ehemaligen Colonia Dignidad Realität werden kann, brauche es endlich konkrete Vereinbarungen der Regierungen, sagt Elke Gryglewski. Dieser Verantwortung gerecht zu werden, sei nun Aufgabe des grün geführten deutschen Außenministeriums und der neuen linken Regierung Chiles unter Gabriel Boric, so Elke Gryglewski:

Elke Gryglewski: „Wir haben es mit zwei Regierungen zu tun, die sich auf die Fahnen schreiben, dass sie aktiv Menschenrechtsarbeit, Menschenrechtspolitik machen wollen. Eine Gedenkstätte wird nicht funktionieren ohne ein staatliches Bekenntnis. Das zivilgesellschaftliche Engagement ist jetzt jahrzehntealt in dem Bereich. Es braucht jetzt eine politische Entscheidung von den Regierungen.“

Erstausstrahlung südnordfunk # 98 am 5. Juli 2022

Die Radiojournalistin Ute Löhning hat die Villa Baviera mehrfach besucht und zur Aufarbeitung der Verbrechen recherchiert.

Aktuelles zur Entschädigungsdebatte

Die Errichtung eines Gedenkortes und Dokumentationszentrums wäre zumindest ein Beitrag zur immer noch schleppenden Aufarbeitung der Geschichte. Zwar wurde ein von der Berliner FU und chilenischen Partner-Universitäten getragenes Oral History Archiv im März 2022 eröffnet. In diesem Rahmen wurden rund sechzig Video-Interviews mit Zeitzeug*innen und Betroffenen für wissenschaftliche und Recherchezwecke veröffentlicht. Im Juni wurde ein Teilgrundstück der Villa Baviera zwangsversteigert. Aus dem Erlös sollen chilenische Missbrauchsopfer Entschädigungszahlungen erhalten. Doch die politische und juristische Aufklärung verläuft schleppend. Die deutsche Justiz hat in keinem einzigen Fall Anklage wegen Verbrechen der Colonia Dignidad erhoben. Besonders bekannt wurde der Fall des ehemaligen Sektenarztes Hartmut Hopp, der in Chile wegen Beihilfe zu Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch rechtskräftig verurteilt ist, der aber seit über zehn Jahren weitgehend unbehelligt in Krefeld lebt. In Deutschland hat er einen sicheren Rückzugsort gefunden, wo er seine chilenische Strafe nicht verbüßen muss und die deutsche Justiz alle strafrechtlichen Ermittlungen gegen ihn inzwischen eingestellt hat.

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