Europäischer Selbstverrat

Rezensiert von Sarah Spasiano

08.12.2022
Veröffentlicht im iz3w-Heft 390

Mit klarem Blick führt der Journalist, Aktivist und Europaabgeordnete der Grünen Erik Marquardt in Europa schafft sich ab die Leser*innen durch die vergangenen Jahre europäischer Asylpolitik. Es gelingt ihm, bewegende Einzelschicksale und empörende Vorfälle mit der strukturellen und politischen Ebene zu verbinden. Seine persönlichen Erfahrungen aus der Zeit als Journalist an den europäischen Außengrenzen, in Afghanistan oder entlang der Balkanroute ergänzen sich dabei in spannender Weise mit seinen Einblicken in die politische Arbeit in Brüssel. Dieser doppelte Blick macht die Stärke des Buches aus. Daneben beschreibt Marquardt, wie sich die Solidaritätsbewegung mit Geflüchteten in öffentlichen Debatten immer wieder in einer Verteidigungsposition wiederfindet. So etwa, wenn es um den CSU-Vorschlag einer »Obergrenze« für die Aufnahme von Geflüchteten ging. In rechter Rhetorik wurde an dieser Stelle die Wiederherstellung von ‚Recht und Ordnung‘ thematisiert. Dass dieser Vorschlag der ‚Obergrenze‘ einen massiven Bruch des Grundrechts auf Asyl bedeutet, wird dabei vernachlässigt. Der auf Thilo Sarrazin anspielende Titel ist vor diesem Hintergrund als fast schon ironische Verdrehung des öffentlichen Diskurses zu verstehen, der sich in den letzten Jahren nach rechts verschoben hat.

In den letzten Kapiteln versucht Marquardt, trotz des erdrückenden Gesamtbilds, einen positiven Ausblick zu entwerfen. Er macht Vorschläge zur Gestaltung der europäischen Migrationspolitik und zeigt, was Einzelne tun können, um die Situation zu verbessern. Viel Neues ergibt sich dabei nicht: Der Vorschlag eines europäischen Verteilmechanismus und auch die Antworten auf die Frage »Was kann ich selbst tun?« zeigen kaum neue Perspektiven auf. Dadurch wird allerdings das Grundproblem der europäischen Migrationspolitik deutlich: Die Situation ist bekannt, und ebenso die Lösungen – es mangelt an der Umsetzung. Dieses Buch versucht, ein Anstoß in die richtige Richtung zu sein.

Wer bereits tief im Thema steckt, wird wenig neue Informationen in dem Buch finden. Die Stärke liegt jedoch in der Zusammenstellung und Verknüpfung der Ereignisse und Schauplätze. In seiner Klarheit und Verständlichkeit hat Marquardts Buch das Potenzial, auch Menschen zu erreichen und zu bewegen, die sich mit Flucht nach Europa bisher weniger beschäftigt haben.

Erik Marquardt: Europa schafft sich ab. Wie die Werte der EU verraten werden und was wir dagegen tun können. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg 2021. 240 Seiten, 14 Euro.

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