Nordkaukasus ist gefährlich für LGBTIQ-Personen. Eine Person von North Caucasus Crisis Group auf dem Pride in Warschau
North Caucasus Crisis Group auf dem Pride in Warschau, 17. Juni 2023 | Foto: NC SOS

»Verhaftungen, Folter und Gefängnis­aufent­halte sind an der Tages­ordnung«

Interview mit der NGO North Caucasus Crisis Group

Die North Caucasus Crisis Group unterstützt und evakuiert Personen aus Provinzen in der Nordkaukasus-Region, primär aus den russischen Republiken Tschetschenien, Inguschetien und Dagestan. Dort ist das Leben für queere Menschen oft noch gefährlicher als in anderen Provinzen Russlands.

Das Interview führten Lena Kircheisen und Svetlana Boltovska

19.02.2024
Veröffentlicht im iz3w-Heft 401
Teil des Dossiers Queers in Bewegung

iz3w: Wie ist die Situation für Queers und Frauen im Nordkaukasus? Welchen Schwierigkeiten sind sie ausgesetzt?

NC SOS Crisis Group: Die Probleme fangen schon damit an, dass sich die Betroffenen nicht frei äußern können. Sie müssen ein Leben im Verborgenen führen, denn Russland akzeptiert sie nicht. In Tschetschenien werden Schwule von der Polizei verfolgt, verhaftet, gefoltert und manchmal sogar getötet. Oder sie werden gegen Geld an die Familien ausgeliefert. Auch in den autonomen Republiken Dagestan und Inguschetien ist ihre Lage sehr desolat, wenngleich nicht ganz so verheerend. Dennoch sind Verhaftungen, Folter und Gefängnisaufenthalte an der Tagesordnung. Viele werden in Kliniken gebracht, um dort von ihrer Homosexualität ‚geheilt‘ zu werden. Als wir uns gegründet haben, haben wir zunächst nicht mit heterosexuellen Frauen gearbeitet. Das hat sich inzwischen geändert, denn auch ihre Lage ist inzwischen verheerend. In der patriarchalen Gesellschaft im Nordkaukasus sind Frauen sehr verwundbar, sie werden zwangsverheiratet oder erleiden physische und psychische Gewalt, und selbst die Polizei schlägt sich auf die Seite der Angreifer und nicht der Opfer.

Wie funktionieren eure Hilfsangebote und wie können sich Betroffene an euch wenden?

Wir sind per E-Mail und vor allem über verschlüsselte Messenger erreichbar. Meist teilen uns die Leute ihre Geschichte darüber mit und suchen Hilfe. Wir erfragen dann weitere Details und überlegen, was wir anbieten können. Manchmal ist es irritierend, wenn dann der Kontakt plötzlich abbricht, denn vielleicht ist die Person untergetaucht oder verschleppt worden. Es ist ein furchtbares Gefühl zu wissen, dass die Person, mit der du gestern noch gesprochen hast, heute vielleicht nicht mehr lebt. In der Regel erarbeiten wir einen Plan, zum Beispiel für eine Evakuierung, raus aus dem Kaukasus oder sogar raus aus Russland. Das ist kompliziert, denn die Nordkaukasus-Republiken, vor allem Tschetschenien, halten ihre Grenzen sehr dicht. Man kann da nicht einfach einreisen, sich der Person annehmen und zusammen wieder raus. Ein Fluchtplan enthält sehr viele Details und Stationen. Wenn man gefasst wird, hat das für alle Beteiligten harte Konsequenzen, weshalb wir sehr versteckt arbeiten müssen.

»Man kann da nicht einfach einreisen, sich der Person annehmen und zusammen wieder raus.«

Als wir vor zwei Monaten eine Frau aus Inguschetien evakuierten, wurde einer der Fahrer eine Woche später verhaftet. Ihm wurde damit gedroht, dass seine Familienangehörigen getötet würden, wenn er die Frau nicht wieder zurückbrächte. Wir sind mit dieser Geschichte an die Öffentlichkeit gegangen und wollten versuchen, den Fahrer und seine Familie zu schützen. Alle Familienmitglieder sind in Tschetschenien und leben, aber die Angst bleibt und sie wissen nicht, was als nächstes kommt. Denn die Frau wird nicht zurückkommen, für sie ist das viel zu unsicher.

Wie viele Leute unterstützt ihr derzeit?

Seit wir unsere Arbeit 2017 aufgenommen haben, haben wir mehrere hundert Menschen unterstützt. Einige sind noch in Russland, andere außerhalb, einige leben jetzt ihr eigenes Leben in einem anderen Land, doch wir begleiten sie nach wie vor psychologisch.

Gibt es im Nordkaukasus eine queere Bewegung?

Nicht mehr. Bevor in Tschetschenien Ramzan Kadirov 2007 Präsident wurde, gab es auch dort eine queere Community, auch als noch sein Vater Achmat Kadirov regierte. Es gab Cafés und andere Orte, an denen sich die Leute trafen. Die tschetschenische Gesellschaft war sicher nicht queerfreundlich, doch obwohl sie muslimisch ist, war es recht friedlich, ein normales Leben eben. Auch findet man im Vergleich zu anderen Regionen immer noch Spuren davon. In Dagestan gibt es Treffs in Cafés, allerdings recht heimlich, denn es ist gefährlich. In Tschetschenien ist das heute nicht mehr möglich, sogar Menschen, die sich über Dating-Apps treffen, haben Angst. Du weißt nie, ob es nicht vielleicht ein Polizist oder Agent ist, den du kontaktierst.

Was hat in den letzten Jahren zur Verschärfung der Situation beigetragen? Welche Rolle spielt Religion dabei?

Diese Veränderungen haben eher politische Gründe, weniger religiöse. Tschetschenien war schon immer eine muslimische Region, die Gesellschaft war nicht homofreundlich, aber auch nicht ausgesprochen homofeindlich. Oft wird von politischen Problemen abgelenkt, indem man gegen Minderheiten hetzt. Ramsan Kadyrow machte LGBTIQ-Personen zur Zielscheibe.

Jedenfalls ist die Lage inzwischen so zugespitzt, dass die Regierungszeit von Achmat Kadyrow viel besser war als das, was wir heute erleben. Auch damals war das Land sicher kein demokratisches Paradies, aber es gab ein irgendwie normales Leben, die Community war legal, konnte kommunizieren, chatten. Mittlerweile ist es für heterosexuelle Frauen bereits lebensgefährlich, einen russischen Mann zu daten. Eine Beziehung zu einem Russen oder einem Mann irgendeiner anderen Nationalität konnte tödlich enden. Erst kürzlich wurde eine Tschetschenin, die in Moskau einen Mann gedatet hatte, von Verwandten nach Tschetschenien entführt und ermordet. Weil es die Ehre der Familie nicht zulässt, dass eine tschetschenische Frau eine Beziehung mit einer Person einer anderen Herkunft eingeht.

Habt ihr Kontakt zu Personen, die jetzt im Ausland leben? Viele Leute in Russland denken, wer erst einmal in Deutschland ist, sei seines Lebens sicher.

Personen aus Tschetschenien sind nirgendwo sicher. Leider werden sie überall verfolgt, die Hetze hört nicht an der russischen Landesgrenze auf. Wir sind mit vielen Geflüchteten nach wie vor in Kontakt, viele leiden vielfach unter posttraumatischen Belastungsstörungen. Nach alldem, was sie durchgemacht haben, ist es nicht leicht, einfach ein neues Leben zu beginnen.

»Von jung auf lernt man, dass die Familie alles ist«

Hinzu kommen Schwierigkeiten mit den lokalen Behörden. Schwule werden im Nordkaukasus oft zwangsverheiratet. Ein tschetschenischer Mann, der in eine deutsche Großstadt geflüchtet war, hatte dort Probleme, weil die Behörden nicht verstehen konnten, warum er mit einer Frau zusammenlebt und Kinder hat. Sie hatten keine Vorstellung davon, wie gefährlich die Lage sowohl für ihn als auch für seine Familie ist.

Das müssen wir ausländischen Behörden oft erklären: Es gibt die Vorstellung einer kollektiven Verantwortung in Tschetschenien. Demnach ist die Familie mitverantwortlich. Auch die zwangsverheiratete Frau wird als mitschuldig betrachtet, wenn ihr schwuler Mann das Land verlässt. Daher ist auch das Leben der Frauen und Kinder schwuler Ehemänner gefährdet, der Mann kann seine Familie nicht einfach so zurücklassen.

Ihr unterstützt auch in Fällen weiblicher Genitalverstümmelung. Wie ist die Situation diesbezüglich im Nordkaukasus?

Niemand spricht darüber, dass weibliche Genitalverstümmelung auch in Russland praktiziert wird. Es gibt keine Daten zum Ausmaß, daher wissen wir nicht, wie viele Frauen betroffen sind. Im ländlichen Raum in Dagestan ist Genitalverstümmelung besonders verbreitet. Manche Mädchen werden bereits im Alter von drei bis vier Jahren dieser Praxis unterzogen. Die betroffenen Frauen, die wir begleiten, sind oft völlig verstört. Wir bieten psychosoziale Hilfe an. Ein großes Problem ist die starke Familienorientierung: von Kindheit an lernt man in Tschetschenien, dass die Familie alles ist, dass sie dich beschützt, immer an deiner Seite steht. Daher ist es tief verletzend, wenn die Familie sich abwendet oder man die Familie verlassen muss, um zu überleben.

Welche Rolle spielt Öffentlichkeit in eurer Arbeit?

Die Öffentlichkeit ist so wichtig, weil die tschetschenische Regierung vor nichts anderem so viel Angst hat. Sie will nicht, dass man über die tatsächliche Lage informiert ist. Die offizielle Haltung ist, dass es in Tschetschenien keine queeren Menschen gibt – und das soll auch so bleiben. Je mehr Menschen sich also an die Öffentlichkeit wenden, desto mehr geraten die Behörden unter Druck. Wenn eine*r unserer Klient*innen verhaftet wird, gehen wir oft an die Öffentlichkeit und konnten so auch schon Leute retten. Dieses Glück haben wir nicht immer, viele sind trotz öffentlichen Drucks in Schwierigkeiten. Dennoch setzen wir auf öffentlichen Druck, denn eine andere Form der Unterstützung haben wir in unserer Arbeit nicht.

Wie blickt ihr in die Zukunft?

Das ist eine schwierige Frage, es ist nicht vorhersehbar. Die Republiken im Nordkaukasus haben unterschiedliche Dynamiken. So werden Betroffene aus Tschetschenien ihren Weg nicht durch Russland wählen, weil es seit langem ihr Wunsch ist, dem russischen Einfluss zu entkommen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Tschetschenien in vielleicht zehn Jahren nicht mehr Mitglied der Russischen Föderation ist, vor allem dann, wenn Russland den Krieg in der Ukraine verliert. Zudem hoffe ich natürlich, dass die Stimmung in Russland kippt, dass das antidemokratische Regime fällt. Doch es ist ebenso wahrscheinlich, dass sich die Situation in zwei bis drei Jahren nochmal zuspitzt.

Das Interview führten Lena Kircheisen und Svetlana Boltovska. Übersetzung aus dem Englischen: Martina Backes.

Dieser Artikel ist erschienen im iz3w-Heft Nr. 401 Heft bestellen
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