Cover des Romans Dschinns

Geister sind das kleinste Problem

Rezensiert von Patrick Helber

08.12.2022
Veröffentlicht im iz3w-Heft 390

In ihrem Roman Dschinns erzählt Fatma Aydemir die Geschichte der Familie Yilmaz, deren Mitglieder Hüseyin, Ümüt, Sevda, Peri, Hakan und Emine um die Jahrtausendwende von diversen Geistern (Dschinns) der Vergangenheit heimgesucht werden. Jedes der sechs Kapitel ist dabei aus Sicht eines anderen Familienmitglieds geschrieben. Das Buch erinnert damit in seinem Aufbau an die multiperspektivischen Erzählweisen in Shida Bazyars Roman »Nachts ist es leise in Teheran« (2016) oder in Bernardine Evaristos »Mädchen, Frau, etc.« (2019). Aydemir gelingt es in dieser multiperspektiven Einteilung glaubwürdige Charaktere mit Gefühlen und Widersprüchen zu entwerfen.

Wie bereits in ihrem ersten Roman »Ellenbogen« spielt ein großer Teil von »Dschinns« in Istanbul. Im Zentrum steht dieses Mal aber nicht die Stadt, sondern eine frisch möblierte, noch unbewohnte Wohnung, deren Sterilität man beim Lesen beinahe riechen kann. Hier wünschst sich Hüseyin, der pensionierte Familienvater, die Erlebnisse als Migrant in Deutschland und seine Traumata aus der Zeit im türkischen Militär in Kurdistan hinter sich zu lassen. Zur harmonischen Familienvereinigung in Istanbul kommt es jedoch nicht. Hüseyin stirbt nach der Fertigstellung des Apartments an einem Herzinfarkt und die Familie eilt zur Beerdigung an den Bosporus.

Aydemirs Roman kommentiert aus der Perspektive der Protagonist*innen nahezu beiläufig zahlreiche gegenwartspolitische Themen, ohne dabei oberflächlich oder plakativ zu sein: Rassistische Gewalt und Polizeiübergriffe in Deutschland, Homo- und Transphobie, Identitätskonflikte, psychische Krankheit sowie die Erinnerung an den Holocaust aus postmigrantischer Perspektive und den Krieg gegen die Kurd*innen in der Türkei. Themen, die relevanter sind als die Befürchtung, versehentlich einen Dschinn zu rufen: »Was soll diese ständige Angst vor Dschinns eigentlich? Warum warnt man die Kinder immer noch vor irgendwelchen mythologischen Wesen, und nicht vor richtigen Gefahren? Faschisten zum Beispiel oder dem Kapitalismus?

Überdies enthält der Roman zahlreiche geistreiche und kreative popkulturelle Referenzen und Seitenhiebe, zum Beispiel gegen Rapper aus Stuttgart. Zahlreiche solcher Referenzen machen nicht nur den Red Bull-getränkten Roadtrip des ältesten Sohns Hakan von Deutschland nach Istanbul, sondern den kompletten Roman zu einer lesenswerten, unterhaltsamen aber auch nachdenklich stimmenden Zeitreise zurück in die 1990er-Jahre.

Fatma Aydemir: Dschinns. Hanser Verlag, München 2022. 368 Seiten, 24 Euro.

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