Ausstellungstafeln mit Porträts der ehemals Inhaftierten im Tuol Sleng Genozid Museum
Die Gefangenen wurden direkt nach ihrer Ankunft im S-21 fotografiert | Foto: Jean-Sien Kin | tuolsleng.gov.kh

Die Killing Fields-Tour

Nur wenige Gedenkstätten in Kambodscha erinnern an die Gräueltaten der Roten Khmer

Die Aufarbeitung des Pol Pot-Regimes ist keinen geradlinigen Weg gegangen. Die zwei bekanntesten Orte, an denen die Roten Khmer systematische Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen, werden von Kambodschaner*innen und wesentlich mehr internationalen Tourist*innen besucht. Nun sollen die Gedenkorte UNESCO-Kulturerbe werden.

von Barbara Thimm

15.11.2022
Veröffentlicht im iz3w-Heft 392
Teil des Dossiers Dark Tourism

Es gibt sie. Rote Kleinbusse mit der Aufschrift The Killing Fields Tour. Wer dort einsteigt, wird das Tuol Sleng Genocide Museum besuchen, das ehemalige Büro S-21 im Herzen der Stadt Phnom Penh. Auch Choeung Ek, die ehemalige Mordstätte von S-21 am Stadtrand, rund 15 Kilometer vom Zentrum entfernt, ist Teil der Tour. In den Jahren vor der Corona-Pandemie haben bis zu 500.000 Menschen jährlich die beiden Gedenkorte besucht. Rund 85 Prozent von ihnen kamen aus dem Ausland, aus fast allen Teilen der Welt: China, Vietnam, Thailand, Japan und Korea, gefolgt von Amerikaner*innen, Australier*innen und Europäer*innen. Die meisten internationalen Besucher*innen reisen jedoch individuell oder in kleinen Gruppen mit dem Tuktuk an, dem ortsüblichen offenen Motortaxi.

Die Mehrzahl der Kambodschaner*innen kommt im Rahmen organisierter Schul- oder Gruppenbesuche. Geschichte am Ort des Geschehens und damit aus nächster Nähe zu erfahren, diesen Beweggrund teilen alle Besucher*innen. Die Orte scheinen zu versprechen, eine bessere Vorstellung und ein klareres Verständnis des Geschehenen zu erhalten. Wie kambodschanische und internationale Besucher*innen diese Orte interpretieren, darüber gibt es keinen – jedenfalls nicht von den Gedenkstätten – organisierten Austausch. Doch es kommt immer wieder zu lebhaften Diskussionen zwischen den lokalen Tourguides und den ausländischen Gästen. Eintragungen in den Besucherbüchern lassen erahnen, wie spannend dieser Austausch wäre.

Das Abholen ins S-21 war für fast alle Menschen ein Todesurteil

Die Bewegung der kommunistischen Roten Khmer in Kambodscha erstarkte in den 1960er-Jahren und kontrollierte das gesamte Land von April 1975 bis Januar 1979. In dieser Zeit starben zwischen 1,7 und 2,2 Millionen Menschen (bei einer Gesamtbevölkerung von damals rund 6,5 Millionen) an grausamen Lebens- und Arbeitsbedingungen, oder weil sie gezielt getötet wurden. Auf der Suche nach ‚inneren Feinden‘ mordete die »Angkar« – die Organisation, wie die Roten Khmer sich nannten – direkt in den Dörfern oder ließ Gefangene zunächst in eines der 196 Gefängnisse bringen, um Geständnisse unter Folter zu erzwingen. Das Büro S-21 (S stand für Santebal = geheim), so der offizielle Name der Folter- und Mordstätte in Phnom Penh, unterstand direkt dem Zentralkomitee der Partei und war den ‚wichtigen‘ Gefangenen vorbehalten. Das Abholen ins S-21 war für fast alle Menschen ein Todesurteil.

Zurzeit sind über 18.000 Namen von Opfern von S-21 bekannt. Der Abgleich von Listen ist jedoch noch nicht abgeschlossen. Es könnten auch bis zu 21.000 Gefangene dort gewesen sein, überwiegend Männer, aber auch Frauen und Kinder, die später in Choeung Ek ermordet wurden. Nach 1979 sind nur zwölf Personen als Überlebende von S-21 bekannt geworden. Das Tuol Sleng Genocide Museum (das ehemalige Gefängnis S-21) und das Choeung Ek Genocidal Center (die ehemalige Mordstätte von S-21) sind die beiden einzigen Gedenkorte in Kambodscha, die vom Staat betrieben werden*. Um eine kleine Anzahl der vielen weiteren über das gesamte Land verstreuten ehemaligen Gefängnisse und Mordstätten kümmern sich NGOs aus Phnom Penh oder Engagierte vor Ort; an den allermeisten Orten gibt es jedoch keine Hinweise auf die Vorgeschichte und kaum noch sichtbare Spuren.

Tourismus und Gedenken an einem Ort

Die Lage der Hauptstadt Phnom Penh lädt zum Verweilen ein. Hier münden die großen Flüsse Mekong und Tonle Sap ineinander. Das National Museum stellt eine beeindruckende Sammlung von Statuen aus der Angkor-Periode aus, der Königspalast ist zu weiten Teilen öffentlich zugänglich. Doch es gibt kaum weitere touristische Anziehungspunkte. So wurde das Tuol Sleng Genocide Museum zum meistbesuchten Ort in Phnom Penh. Nur die Tempel in Siem Riep im Nordwesten des Landes übertreffen dessen Besucherzahlen.

Wer das Tuol Sleng Genocide Museum besucht, betritt ein ehemaliges Schulgelände: vier dreistöckige Betongebäude aus den 1960er-Jahren, die u-förmig zwei große ehemalige Schulhöfe umschließen. Nachdem das Gefängnis im Januar 1979 – wenige Tage nach der Flucht der Roten Khmer aus Phnom Penh – von zwei vietnamesischen Kameraleuten entdeckt worden war, wurden Spuren, Dokumente und Objekte von der noch im Januar installierten neuen Regierung Kambodschas gesichert. Sie begannen damit, den Ort zu musealisieren. Dies geschah nicht frei von politischen Motiven. Die vietnamesischen und kambodschanischen Verbände kämpften weiter gegen die Roten Khmer, die inzwischen nicht nur von China, sondern auch von Thailand und den USA unterstützt wurden.

Aufgrund der anti-kommunistischen Haltung vieler Länder der Vereinten Nationen und der Konfrontation zwischen China und der Sowjetunion konnten die Roten Khmer erreichen, den Sitz für Kambodscha in der Generalversammlung bis 1989 (!) zu halten und kaum ein Land erkannte die neue »People’s Republik of Kampuchea« an. Hilfslieferungen durften nicht ins Land, sondern nur zu den Flüchtlingslagern in Thailand, die zum Teil von den Roten Khmer kontrolliert wurden. Vietnam, das alles unternahm, um die Vereinten Nationen umzustimmen und als Befreier und nicht als Besatzer gesehen werden wollte, zielte darauf ab, China als Schutzmacht der Roten Khmer anzuklagen und die internationale Unterstützung für die Roten Khmer zu beenden. Lange erfolglos.

Geschichtsschreibung unterliegt der Kontrolle der Ministerien

Auch weil die vietnamesische Regierung ihre Anwesenheit im Land legitimieren musste, nutzte sie das Museum und einen (Schau-)Prozess im August 1979 gegen Pol Pot und Ieng Sary in Abwesenheit, um die Taten der Roten Khmer zu dokumentieren und juristisch zu ahnden. Im Tuol Sleng Genocide Museum entstand eine Dauerausstellung, deren Kernbestand und Botschaft sich seither kaum verändert hat. Zu sehen ist eine große Anzahl an Fotografien der Gefangenen, aufgenommen im Moment ihrer Einlieferung, außerdem Gemälde von Vann Nath, einem der wenigen Überlebenden, der die Haftbedingungen und Foltermethoden in S-21 naturalistisch dargestellt hat. Zudem sind eine Reihe Folterinstrumente zu sehen. In einem der Gebäude sind die Einzelzellen noch erhalten und im letzten Raum der Dauerausstellung sind hunderte Totenschädel neben einer Stupa (buddhistischer Schrein) aufgebahrt.

Seit 2015 wurde die Ausstellung, die fast keine erklärenden Texte enthält, durch einen in elf Sprachen verfügbaren Audioguide ergänzt, der großen Zuspruch erfährt. Ansonsten gibt es wenig touristische Infrastruktur. Souvenirläden im Gelände wurden mittlerweile geschlossen, denn der Souvenirverkauf wurde als unpassend empfunden und lenkte die Aufmerksamkeit vom Buchverkauf der drei Überlebenden ab. Die Gedenkstätte selbst verkauft nur einen umfangreichen Katalog zur Museumsgeschichte. Eine Publikation zur Gefängnisgeschichte ist für 2023 geplant. Vor der Pandemie konnten Besucher*innen einmal täglich an einem Zeitzeugengespräch teilnehmen – mit Überlebenden der Roten Khmer-Zeit die Stille im »White Lotus«-Raum wahrnehmen oder das Filmangebot nutzen. Essen und Getränke werden nur außerhalb der Gedenkstätte angeboten.

Beweis und Projektionsfläche

Da bisher keinerlei moderne Ausstellungsgestaltung eingesetzt wurde, kein Touchscreen zum Abrufen von Informationen einlädt und keine digitalen Medien zu sehen sind, wirkt die Ausstellung elementar. Es gibt Fotos, Fußfesseln, Büsten von Pol Pot, den Stuhl, auf dem die Gefangenen Platz nehmen mussten, um fotografiert zu werden. Des Weiteren Foltergegenstände, Gemälde, Totenschädel. »In den Augen der Gefangenen spiegelt sich die Todesangst«, kommentieren einige Besucher*innen. »Die Gesichter zeigen, dass die Menschen die Hoffnung noch nicht verloren haben«, meinen andere. Doch alle beziehen sich auf dieselben Bilder. Über 2.000 Fotografien sind in langen Reihen ohne weitere biografische Informationen ausgestellt, als ob die Darstellung die Sichtweise der Institution, die sie verfolgt hat, wiederholen wollte: eine anonyme Masse von Menschen, die nicht als Individuen erinnert werden sollten. Die meisten Besucher*innen betonen, das Besondere sei, am Ort »des Geschehens« zu sein.

Verstärkt wird diese Wirkung durch die Anwesenheit von drei Überlebendenden. Chum Mey, Bou Meng und Norng Chanphal sind bis heute täglich in der Gedenkstätte und verkaufen ihre Biografien. Sie bestreiten damit ihren Lebensunterhalt, da keine individuellen Reparationen ausgezahlt wurden und der Staat keine Renten vorsieht. Sie sind aus eigener Motivation vor Ort und nicht beim Museum angestellt. Da die wenigsten Besucher*innen sich jedoch ausreichend Zeit nehmen, und die drei ihre Geschichte immer und immer wieder erzählen, scheinen diese Gespräche einem routinierten Muster zu folgen. Das macht sie für die Besucher*innen nicht weniger eindrücklich. Und für die Überlebenden ist es ein Schutzmechanismus: sich nicht immer wieder neu zu erinnern und somit zu retraumatisieren.

Buchverkäufter und Überlebender vor dem Museumseingang mit Büchertisch
Der Überlebende Chum Mey beim Buchverkauf vor der ehemaligen Mordstätte S-21 | Foto: Jean Sien Kin

Im Vergleich zum Tuol Sleng Genocide Museum tritt die Ausstellung im Choeung Ek Genocidal Center in den Hintergrund. Das ausladende Gelände außerhalb der Stadt beherbergt eine große Anzahl von Massengräbern, die nur zum Teil gehoben wurden. Sie bilden das Zentrum. Ein Rundweg führt die Besucher*innen auf Stegen über die Gräber. Informationstafeln schildern, wie das Morden organisiert wurde, und dass die Natur weiterhin Knochen- und Textilstücke an die Oberfläche drückt. In der Mitte des Geländes wurde eine hohe Stupa errichtet, die Hunderte von Schädeln beherbergt und zur Schau stellt. Die begleitende Ausstellung ist sehr knapp. Auch hier ergänzt ein Audioguide seit 2015 die Tafeln.

Für wen?

Beide Gedenkstätten wurden in erster Linie für die kambodschanische Gesellschaft errichtet, wenngleich von Beginn an ausländische Delegationen eingeladen wurden. Der Massentourismus hat Kambodscha erst nach der Jahrtausendwende erreicht, mit langsam aber gleichmäßig wachsender Tendenz bis 2020. Als absehbar wurde, dass sich mit Eintrittskarten Geld verdienen ließ, machte die Regierung davon gerne Gebrauch (für Staatsbürger*innen ist der Eintritt frei). Zugleich sind die Eintrittsgelder die einzige Einnahmequelle beider Gedenkorte. Während die Zahl der ausländischen Tourist*innen stieg, blieb die Zahl kambodschanischer Besucher*innen begrenzt.

Das änderte sich zum Teil mit organisierten Touren durch das Khmer Rouge Tribunal (ECCC) und seit sich das Tuol Sleng Genocide Museum verstärkt für Kooperationen mit Schulen engagiert. Seit dem Beginn des Tribunals (mit dessen Abschluss noch in 2022 gerechnet wird) gibt es eine Schautafel auf dem Gelände des Museums, die die fünf Hauptangeklagten vorstellt. Einer von ihnen Kang Kek Iew (alias Duch), der damalige Leiter von S-21. Duch wurde zu lebenslanger Haft verurteilt und ist inzwischen verstorben.

Beide Gedenkorte gelten in Kambodscha als Orte einer grauenvollen Geschichte. Menschen, die durch Gewalt gestorben sind und deren Gebeine nicht beerdigt werden konnten, sind nach weit verbreitetem Glauben als unruhige Geister weiterhin anwesend. Und Geistern möchte man nicht begegnen.

Beide Gedenkorte gelten in Kambodscha als Orte einer grauenvollen Geschichte.
So lautet häufig die Antwort auf die Frage an Einheimische, ob sie schon mal in Tuol Sleng Genocide Museum waren: Warum sollte ich? Wenngleich über zwei Drittel der Bevölkerung nach 1979 geboren wurde, so werden doch in (fast) allen Familien bis heute Menschen vermisst und Angehörige haben die Schreckensherrschaft miterlebt. Die Jüngeren wollen die Älteren nicht an diese Zeit erinnern, um sie nicht traurig zu stimmen. Dennoch stellt die junge Generation zunehmend Fragen, denn sie kann nur schwer glauben, dass so ein mörderisches Regime ihr Land vor über 40 Jahren regiert hat.

Hinzu kommt, dass die Darstellungen im Museum immer wieder aus politischen Gründen hinterfragt und als ‚vietnamesische Propaganda‘ abgetan werden. Generell wird Geschichtsdarstellungen der Regierung misstraut. Das Museum hat in 2019 darauf reagiert und eine umfangreiche Ausstellung (mit Begleitkatalog) zu seiner vierzigjährigen Geschichte erarbeitet. Ausstellung und Katalog haben großen Zuspruch erhalten und zur Versachlichung der Debatte beigetragen. Die juristische (Nicht-)Aufarbeitung seit 1979 wird ausführlich vorgestellt.

Was ist schon sicher

Nach 30 Jahren Bürgerkrieg und verschiedenen Regimen waren die Jahre nach dem Tode Pol Pots 1998 unter Hun Sen, dem dienstältesten Premier der Welt, relativ stabil. Für diese Stabilität bezahlte die Bevölkerung jedoch einen hohen Preis: Das ökonomische Wachstum wurde politisch repressiv begleitet, und seit den letzten Nationalwahlen 2018 wurde die größte Oppositionspartei verboten sowie viele Freiheitsrechte eingeschränkt.

Auch in Kambodscha wurde 2018 ein Gesetz verabschiedet, das ‚Majestätsbeleidigungen‘ ahndet. Es kann gegen jegliche Kritik angewandt werden. Hun Sen sieht sich als Garant der Stabilität im Land, weil er 1979 zu dessen Befreiung beigetragen hat. Die Geschichtsschreibung unterliegt der Kontrolle der Ministerien und wird öffentlich nicht kontrovers diskutiert.

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Das Tuol Sleng Genocide Museum untersteht dem Ministerium für Kultur und Bildende Künste und damit der Regierung. Die Erinnerung an die Roten Khmer ist gewollt, der Rahmen wird jedoch vom Premier gesetzt. Hinzu kommt, dass der Urbanisierungsdruck in Phnom Penh extrem hoch ist. Jedes Gelände wird ökonomisch bewertet. Vor zwei Jahren konnte das Museum dem Premier antragen, die beiden Gedenkorte sowie ein frühes Gefängnis der Roten Khmer, M-13 in der Provinz, der UNESCO zum Eintrag in die Welterbe-Liste vorzuschlagen. Er griff den Vorschlag auf und wies die Ministerien an, die Bewerbung vorzubereiten. Mit der Einreichung* ist ein erster wichtiger Schritt getan: Kambodscha erkennt an, dass es nicht nur mit seinen berühmten Tempeln in der Welt bekannt sein will. Es steht zur Geschichte der Roten Khmer. Da in den nächsten Jahren möglicherweise ein Machtwechsel in der Regierung und den Ministerien ansteht, engagiert sich das Management von Tuol Sleng Genocide Museum vor allem aus einem Grund für die Bewerbung: Das ehemalige S-21-Gefängnis und dessen Mordstätte langfristig für die kambodschanische Gesellschaft zu erhalten – mit oder ohne internationalen Tourismus.

Barbara Thimm arbeitet im Rahmen des Zivilen Friedensdienstes seit 2017 als Beraterin am Tuol Sleng Genocide Museum.

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