»Zwischen Skylla und Charybdis«
Interview mit Klaus Dörre über die ökonomisch-ökologische Krise
Die Weltwirtschaft stagniert, doch altbekannte Wege der Krisenlösung durch ressourcenintensives Wachstum verbieten sich aus ökologischen Gründen. Das Zusammenspiel von ökonomischer und ökologischer Krise stellt unsere Gesellschaft vor eine neue Herausforderung, meint der Jenaer Wirtschaftssoziologe Klaus Dörre. Welche Auswege gibt es aus dieser »Zangenkrise«?
iz3w: Sie lehren in Jena. In Eisenach, nur 100 Kilometer entfernt, befindet sich das Opel-Werk Eisenach. Dort beteiligen Sie sich an Debatten, bei denen die Lebenswelten von Automobilarbeiter*innen und auf jene von Sozialwissenschaftler*innen treffen.
Klaus Dörre*: Ich beteilige mich nicht nur an Diskussionen. Wir haben dort als soziologisch Forschende, mit der Unterstützung des Betriebsrates, auch Studien erstellt.
Wie kam es dazu?
Lange Zeit, seit Ende der neunziger Jahre, haben wir dort vergeblich angeklopft. Eisenach war ein Vorzeigewerk von General Motors. Dort war Forschung schwer möglich. Das hat sich mit der allgemeinen Verunsicherung geändert. Unsere jüngste Untersuchung belegt: Schon der Begriff der Transformation löst in der Belegschaft negative Emotionen aus. Nach Schätzungen der Betriebsräte kann sich bis zu einem Drittel der Belegschaft vorstellen, die AfD zu wählen.
Warum war der Erstkontakt so schwer?
Opel Eisenach war und ist ein industrieller Leuchtturm in der Region. Zudem war das Werk ein Vorzeigemodell für Just-in-time-Produktion. Interessengegensätze waren da tabu. Gewerkschaften hatten im Vergleich zu den anderen Standorten von Autoherstellern in Rüsselsheim, Wolfsburg oder Stuttgart einen schweren Stand. Man war stolz auf sein modernes Unternehmen – man fühlte sich sicher. Da brauchte man auch keine Soziolog*innen.
Und dann kam die Pandemie?
Genau. Das Werk war während der Pandemie drei Monate komplett geschlossen. Zuvor war Opel von General Motors an den französischen Konzern PSA verkauft worden. Das Stammwerk ist jetzt Peugeot im französischen Sochaux. Außerdem lief auch die Produktion der bisher hergestellten Fahrzeugtypen aus…
Seither hat sich auch in der Belegschaft das Bewusstsein verbreitet, dass man sich in einer Krise befindet?
Ja, es gab dann aber noch einen ganz anderen Wendepunkt. Das war der Besuch einer französischen Gewerkschaftsdelegation, die von der recht kämpferischen Confédération générale du travail (CGT) geprägt war. Dieser Besuch hat Spuren hinterlassen. Am Schluss sang man zusammen die Internationale.
Haben Sie nicht gerade angedeutet, dass viele Arbeiter*innen mit der AfD liebäugeln?
Ja, es passt aber in die Umbruchzeit. Zwei Drittel der Belegschaft sympathisieren eben nicht mit der AfD, man wählt andere Parteien oder häufig gar nicht. Außerdem ist das Arbeiterbewusstsein widersprüchlich. Es stellt subjektiv nicht unbedingt einen Gegensatz dar, sich einerseits im Betrieb als Vertrauensmann zu betätigen und andererseits im politischen Feld die AfD für eine Denkzettelwahl gegen die politische Klasse zu nutzen. Die Betriebsräte wissen um diese Problematik. Sie wollen Öffentlichkeit herstellen und haben uns die Türen geöffnet, da sie wissen möchten, wie die Belegschaft die Transformation einschätzt.
Wie würde die Belegschaft Krise definieren?
Die Schließung des Werks wäre die Megakrise. Die Abkehr vom Verbrenner ist ist bei Opel und im Stellantis-Konzern beschlossene Sache. Die Beschäftigten selbst sind von dem vollelektrischen »Grandland«, den sie in Eisenach produzieren sollen, nicht unbedingt überzeugt. Dazu kommen die aktuell sinkenden Absatzzahlen für E-Mobilitäts-Fahrzeuge im inländischen Markt. So kann kaum eine Aufbruchsstimmung entwickelt werden.
Für das, was Sie hier mit Blick auf Opel Eisenach im Kleinen beschreiben, haben Sie mit Blick auf das große Ganze den Begriff der Zangenkrise geprägt. Warum?
Zunächst gibt es zwei Entwicklungslinien, die mit der industriellen Revolution eingesetzt haben und sich kreuzen: Ein rasches, permanentes Wirtschaftswachstum einerseits und beschleunigter Energie- und Ressourcenverbrauch sowie steigende Emissionen andererseits.
»Mit Wachstum bekommen wir ökologische Probleme, ohne Wachstum soziale Verwerfungen«
Und die fossilen Rohstoffe führen zu steigenden Umweltverschmutzungen.
Allein um Verschmutzungen geht es schon lange nicht mehr, es geht um soziale und ökologische Destruktionskräfte. Sie kulminieren bis hin zu Schwellenwerten, an denen eine irreversible Destabilisierung globaler Ökosysteme einsetzt. Die Zangenkrise mit ihrer ökologischen und sozialen Konfliktachse stellt zentrale Grundlagen in Frage. Das wichtigste Mittel zur Überwindung ökonomischer Stagnation und zur Befriedung interner Konflikte im Kapitalismus stellt die Generierung von Wirtschaftswachstum nach Kriterien des Bruttoinlandsproduktes dar. Dieses stößt nun an eine Grenze. Zangenkrise heißt, dass das wichtigste Mittel zur Befriedung sozialer Konflikte in fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften – das Wirtschaftswachstum – diese Funktion nicht mehr erfüllt. Zum einen kommt der gesellschaftlich erzeugte Reichtum vor allem den Reichsten zugute, zum anderen bewirkt diese Art der Reichtumsproduktion ökologische Zerstörung. Es beschleunigt den Klimawandel, forciert das Artensterben und bedroht die natürlichen Lebensgrundlagen. Die Gesellschaften bewegen sich zwischen Skylla und Charybdis. Mit Wachstum handeln wir uns ökologische Probleme ein, ohne Wachstum steigt die soziale Not.
Was ist daran neu?
Diese Zäsur ist keine Wirtschaftskrise im herkömmlichen Sinne. Sie erfasst alle sozialen Felder und alle gesellschaftlichen Teilsysteme.
Ökonom*innen der Regulationstheorie sprechen in so einem Fall, wenn die Normen der Produktion und Konsumption und auch die Leittechnologien, auf denen das Wachstum basiert, erschüttert werden, von einer Krise des Akkumulationsregimes. Haben wir es damit zu tun?
Ja, auch. Es geht um die zunehmende Inkompatibilität von Akkumulationsregimen, etwa der Wachstumsdynamik unserer Wirtschaft, und Regulierungsweisen, sprich: um die Normen, Gesetze, Politiken und Machtverhältnissen, in die Ökonomien eingebettet sind. Die globale Finanzkrise von 2007 bis 2009 signalisierte, dass das finanzmarktgetriebene Akkumulationsregime nicht mehr funktioniert. Deshalb handelt es sich um eine »große Krise« kapitalistischer Akkumulation, die sich von bloßen Konjunkturkrisen unterscheidet. »Große Krisen« sind Krisen von (Re-)Produktionsmodellen, Staatsapparaten, Ideologien, sozialen Beziehungen, Regeln und auch, soweit vorhanden, von demokratischen Institutionen. »Große Krisen« führen im Zuge ihrer Bewältigung zu einem neuen Modus Operandi der Kapitalakkumulation. Unter den gegebenen Verhältnissen heißt das: Eine neue kapitalistische Landnahme steht auf der Agenda. Es kommt, mit Antonio Gramsci gesprochen, zu einer passiven Revolution, zur Revolutionierung des Kapitalismus in den Grenzen kapitalistischer Vergesellschaftung, um die gesellschaftlichen Bedingungen für eine neue Prosperität zu erzeugen.
Man könnte dem entgegnen, dass das marktradikale liberale Modell, das es seit Mitte der 1970er-Jahre gibt, noch quietschlebendig ist. Schauen wir nach Argentinien. Dort gehen die Aktienkurse durch die Decke und ein Rechtsextremer, der den Staat verteufelt, wird zum Präsidenten gewählt.
Ja, das zeigt auch die Schwächen der Regulationsschule, die die kapitalistische Entwicklung oft zu statisch beschreibt. Es geht offensichtlich nicht um ein fertiges Kapitalismusmodell, welches auf ein anderes folgt. Kontinuitäten und Wandel beeinflussen sich gegenseitig.
Rosa Luxemburg ging in »Die Akkumulation des Kapitals« davon aus, dass der Kapitalismus stets versucht, seine eigenen Schranken zu überwinden, indem er Nicht-Kapitalistisches verwertbar macht. Gibt es für das Kapital einen solchen Weg aus der Krise?
Durchaus, es braucht ein nichtkapitalistisches Außen. Ich würde den Begriff der Landnahme aber breiter fassen als Luxemburg: Es geht nicht nur um Kolonien, sondern um Lebensformen, Wissensbestände oder Körper, die noch nicht durchkapitalisiert sind. Die digitale Transformation der Lebenswelten ist dafür ein Beispiel. Allerdings schimmerte bei der These von der Landnahme ein Zusammenbruchs-Gedanke durch. Da habe ich einen Einwand: Die Geschichte des Kapitalismus lehrt uns, dass es eine Evolution von Stabilisierungsmechanismen gibt, die solche Zusammenbrüche verhindern. Die Weltfinanzkrise 2007/08 wurde durchaus mittels umfangreichem staatlichen Handelns abgefedert. In der aktuellen Krise bräuchten wir selbst aus der Perspektive eines ideellen Gesamtkapitalisten mehr staatliche Interventionen. Diese Mechanismen zur Selbststabilisierung des Kapitalismus werden aber immer aufwändiger.
Sind also die Türen für eine neue Prosperität versperrt?
Die Besonderheit des heutigen Umbruchs reicht über den bisherigen Analyserahmen hinaus. Zunächst sind Krisen, so wie wir sie klassisch definieren, überwindbare Zustände: Alte Strukturen zerfallen und neue Modelle sind schon sichtbar, aber noch nicht etabliert. Daher brauchen wir auch eine Analyse der zentralen Krisenursachen.
Jetzt kommt die ganz große Hausnummer?
Wir befinden uns in einer epochalen Krise der Gesellschafts-Natur-Beziehungen.
Die wir unter dem Stichwort Klimakrise gerne verdrängen.
Diese Krise kommt Stück für Stück und ist ein schleichender Prozess.
Es geht um ein neues Erdzeitalter, das Anthropozän, in dem der Mensch zu einem prägenden Faktor für die Biologie oder das Klima wird. Die historische Zäsur liegt auf der ökologischen Zeitachse. Neu ist, dass sich der Lebensstandard der oberen Schichten nicht mehr potentiell im globalen Maßstab verallgemeinern lässt.
»Es geht wieder um die Eigentumsfrage«
Und wie kann diese fundamentale Krise überwunden werden?
Es muss gelingen einen Natur-Gesellschafts-Metabolismus zu etablieren, der die Reproduktionsfähigkeit der Netzwerke menschlichen und außermenschlichen Lebens sicherstellt.
Wie verarbeiten der wirtschaftspolitische Mainstream und die kapitalistischen Eliten eigentlich diese Krise? Welche Lösungen schweben Ihnen vor?
Lösungen gibt es in diesen Vorstellungswelten nur über marktkompatible Mechanismen, wie den Zertifikate-Handel mit Emissionspapieren. Das bewirkt aber wenig, da die CO2-Preise meist zu niedrig sind, sodass sie keine Lenkungsfunktion haben, oder sie sind zu hoch und gehen zulasten der kleinen Portemonnaies, was zu sozialem Protest führt.
Und dann gibt es die Technikfraktion. Im liberalen Talk-Show-Diskurs läuft dies unter dem Begriff »Technologieoffenheit«. Da wird dann beispielsweise über eine Renaissance der Atomtechnologie schwadroniert. Diese ist aber immer noch gefährlich und teuer, die Endlagerfrage ist weiter offen und Lösungen stehen auch erst in zwei Jahrzehnten zur Verfügung. So viel Zeit haben wir tatsächlich nicht.
Was folgt aus dem Faktor Zeitdruck?
Es ist richtig, dass aufgrund der knappen Zeitschienen im Rahmen des Klimawandels fast alle technologischen Lösungen angeschaut werden müssen. Aber die Vorstellung, dass Gesellschaften den Klimawandel nur mit Technik abbremsen können, führt in die Gedankenwelten von Bill Gates und Elon Musk. Damit entkommt man der Zangenkrise nicht. Zudem verbrauchen beispielsweise vermeintliche Innovationen wie Kryptowährungen oder auch KI Unmengen von Energie. Wir benötigen dennoch eine Technikdiskussion, die beispielsweise auch das Einfangen und Verpressen von CO2 beinhaltet.
Also doch eine (teil)technologische Lösung – anstatt Degrowth-Kommunismus wie bei Kohei Saito oder die Kriegsökonomie, die Ulrike Hermann in ihrem Buch »Das Ende des Kapitalismus« vorschwebt?
Beide unterschätzen beispielsweise Speichermöglichkeiten, die wir bei regenerativen Energien haben. Hermann setzt auf einen Katastrophendruck, der Eliten und Gesellschaften dazu zwingt, wie in einer Kriegsökonomie zu handeln. Da geht es dann beispielsweise um Kontingentierung von Ressourcen und Energie. Das ist aber völlig unattraktiv. Der Kriegskapitalismus in England Ende der 1930er-Jahre war nur wegen des Krieges gegen die Nazis auch für die unteren Klassen attraktiv. Hier können wir wieder an die Belegschaft bei Opel anknüpfen. Der Klimawandel ist für sie nicht der Krieg, im Gegenteil: Viele Arbeiter tendieren dazu, den Klimawandel zu relativieren. Mit der Vorstellung vom Schrumpfungsprozess wird man der Differenziertheit des Wandels nicht gerecht.
Wie sieht dann aus Ihrer Sicht die Rolle des Staates aus?
Diese wird viel zentraler werden. Die Analysen der Wirtschaftswissenschaftlerin Mariana Mazzucato sind hier teilweise vorbildlich. Der Staat war im Rahmen einer technologischen Sprungsituation schon immer ein zentraler Akteur. Es geht aber nicht um einen Staat, der nur Märkte repariert und rudimentäre Rahmen setzt, sondern um einen Staat, der Märkte schafft.
Kommen wir zum Globalen Süden. Verfestigt sich die Tendenz, dass periphere Gesellschaften in klassische Rollen, zum Beispiel die als Rohstofflieferant für regenerative Energien, zurückfallen?
Die festgestellte Dichotomie zwischen Nord und Süd kann in Frage gestellt werden. Allerdings zeigen die Terms of Trade, das Austauschverhältnis zwischen dem Import und dem Export eines Landes, ein klassisches Süd-Nord-Gefälle. Die Terms of Trade der Industriestaaten verbesserten sich im Vergleich zu den Terms of Trade der Rohstofflieferanten des Globalen Südens. Dabei geht es heute auch um die Rohstoffe für die E-Mobilität. Wir können eine klare Form der Überausbeutung in Krisenzeiten erkennen. Dazu passt der erwähnte neue Präsident in Argentinien, der das staatliche Tafelsilber verschleudert.
Nun gibt es aber nicht nur Argentinien, sondern ein sozialdemokratisches Gegenmodell im Nachbarland Chile, nicht wahr?
Da kommen außerdem noch Brasilien und einige andere, auch afrikanische Länder, wie Senegal nach den Wahlen, dazu. Die Regierungen von Lula da Silva und Gabriel Boric wären gut beraten, ihre Ressourcen zu kartellieren. Zum Beispiel betrifft das Lithium. Dann könnten sie den Ländern des Nordens Auflagen machen.
Wie hat man sich das vorzustellen?
Betrachten wir das Beispiel vom grünen Wasserstoff. Natürlich kann man diesen in Patagonien, wo der Wind immer bläst, produzieren. Aber wie geht die Wertschöpfungskette weiter? Zunächst müsste nun die Erzeugerregion profitieren. Zudem sollte in der Region auch eine Weiterverarbeitung stattfinden. Um dies durchzusetzen, bräuchte eine machtvolle Verknüpfung, wie in den 1970er-Jahren, als es die Gruppe der Blockfreien gab. Die hatte auch ein wirtschaftspolitisches Konzept. Das Stichwort dazu heißt Nie mehr allein. Die neue Weltwirtschaftsordnung NIEO. Es war das Projekt einer sozialistischen Globalisierung, wie es Julius Nyerere, der damalige Präsident von Tansania, genannt hat.
Das Projekt ist schon in den 1980er-Jahren in den Sackgassen der bipolaren Weltlage versandet.
Es müsste aber unter den aktuellen Vorzeichen neu belebt werden. Allerdings haben wir gerade die Situation, in der die Volksrepublik China und die Russische Föderation mit einer ganz anderen Agenda das Thema besetzen. Ausgerechnet der Kriegstreiber Putin spricht von einer globalen Oberklasse des Nordens, welche den Süden beherrsche.
Aus meiner Sicht sind spätestens heute die alten antiimperialistischen Konzepte unfähig, einen überzeugenden Analyserahmen zu spannen. Zudem bekommen wir den Klimawandel entweder global oder gar nicht in Griff.
Aber es gibt neue imperiale Bestrebungen?
Ja, China und Russland wollen eine neue multipolare Welt, in der es ein Ringen um hegemoniale Konzepte und Räume gibt. In Russland hängen die Eliten politischen Machtphantasien von alter Größe nach. Wobei sie ökonomisch in einer einseitigen Kriegs- und Rohstoffwirtschaft feststecken. Das Akkumulationsregime ist semiperipher.
Lula, Boric und Co. müssen deshalb einen unabhängigen Kurs fahren. Die Vorstellung, man könnte über die Gruppe der BRICS eine emanzipatorische Veränderung einleiten, ist falsch.
Außerdem gibt es dort den Hindu-Nationalisten Narendra Modi in Indien und BRICS-Neuzugänge wie Iran und Saudi-Arabien ...
Genau, daher braucht es auch in Europa Bewegungen, die beispielsweise Boric und seine zivilgesellschaftlichen Unterstützer*innen in Chile fördern.
Wenn linke und emanzipatorische Kräfte in der Vergangenheit erfolgreich waren, hatten sie eine klare und wirkungsmächtige Erzählung zur Verfügung, die aus Krisen herausführte und Massen mobilisierte. Was braucht es da heute?
In meinem Buch »Die Utopie des Sozialismus. Kompass für eine Nachhaltigkeits-Revolution« vertrete ich die These, dass man positiv werden muss. Es richtet sich gegen das Bilderverbot der Kritischen Theorie. Wenn du die Karten nicht auf den Tisch legst, wohin die Reise gehen soll, bist du nicht glaubwürdig und kannst die Leute nicht überzeugen. Man klebt dann wie der implodierte Realsozialismus oder selbst ehemalige Befreiungsbewegungen wie der ANC in Südafrika nur noch an der Macht. Man strahlt keinen Willen zur Veränderung mehr aus. Dabei waren die Möglichkeiten zu Veränderungen schon lange nicht mehr so groß wie heute.
Das ist eine steile These. Sie sprechen doch selbst von einer demobilisierten Klassengesellschaft.
Ja, linke Parteien, Gewerkschaften und Bewegungen sind schwach. Sie haben aber Handlungsmöglichkeiten. Zunächst muss man aus alten Fehlern lernen. Etwa: Die schlechteste demokratische Institution ist besser als gar keine.
Denkt die Linke noch immer zu avantgardistisch und zu wenig demokratisch?
Es geht immer um mehr Demokratie. Da können Linke von Liberalen lernen, allerdings nicht von den aktuellen liberalen und konservativen Protagonisten, die eine halbierte Demokratie voranbringen wollen. In einigen politischen Sektoren gibt es eine lebendige Demokratie. In den Wirtschaftswelten haben wir es aber zunehmend mit fast feudalen Strukturen zu tun, die die Privilegien weniger auf Kosten großen Mehrheiten sichern.
In den letzten Jahrzehnten wurden wichtige demokratische Rechte erkämpft. Heutige junge Frauen stehen in vielen Ländern mit Blick auf ihre Rechte deutlich besser da als ihre Großmütter. Auch die antirassistischen und queeren Bewegungen haben Kämpfe gewonnen. Gleichzeitig geht die Einkommens- und Vermögensschere zwischen arm und reich auseinander. Ist der Neoliberalismus nur gesellschaftlich tolerant, solange es nicht um materielle Gerechtigkeit geht?
Diesen Gap haben auch Feministinnen wie Nancy Fraser erkannt. Der Feminismus für die 99 Prozent kann aus der Sicht von Fraser und ihren Weggefährtinnen daher nur ein ökosozialistischer sein. Da können wir anknüpfen. Es geht wieder um die Eigentumsfrage, aber nicht so wie im 19. und 20. Jahrhundert. Es geht um die Entscheidungsmacht, über das was, wie, wo und womit der Reproduktion und Produktion. Es geht um einen Übergang hin zu Produktionsweisen, die eine hohe Qualität aufweisen. Das sind langlebige und mehrfach zu nutzende Güter. Man kann weiter Autos bei Opel produzieren, denn es braucht sie gerade auf dem Land und im Globalen Süden noch lange. Aber die Autos sind dann immer weniger im Privatbesitz, sondern in der öffentlichen Hand oder in einer Genossenschaft und können über Sharing-Modelle genutzt werden.