zwei Frauen schauen auf ein Tablet einen digitalen Holzstab an
Filmszene: zwei Frauen sehen sich die digitale Version des Holzstabes an | Foto: Carlos Lawson

»Ein einziger Holzstab beinhaltet eine komplexe Geschichte«

Interview mit Elena Schilling und Saitabao Kaiyare über den Film »If objects could speak«

Wenn die geraubten Kulturgüter, die in europäischen Museen lagern, sprechen könnten – was würden sie sagen? In ihrem Film »If objects could speak« reisen Elena Schilling und Saitabao Kaiyare mit einem Gegenstand aus dem Stuttgarter Lindenmuseum nach Kenia, um dessen Ursprünge nachzuverfolgen. Im Interview sprechen sie über ihre Begegnungen und die Rolle von Film im Prozess der Restitution.

Das Interview führte Annalena Eble

09.11.2022
Veröffentlicht im iz3w-Heft 392
Teil des Dossiers Restitution

iz3w: Wie kam es zur Idee für euren Film »If objects could speak« und welche Rolle spielte eure deutsch-kenianische Kooperation dabei?

Saitabao Kaiyare: Wir haben uns beide 2018 für ein Stipendium beworben und sollten dafür einen Dokumentarfilm drehen, der ein Thema behandelt, das unsere Herkunftsländer Kenia und Deutschland verbindet. Im Zuge der Themenfindung und der Gespräche über unsere geteilte Geschichte und den europäischen Kolonialismus kamen natürlich die geraubten Kulturgüter aus der Kolonialzeit auf, die sich zu großen Teilen noch immer in Deutschland befinden. Das Thema Restitution wurde damals auch zunehmend medial diskutiert. Daran wollten wir anknüpfen und hatten schließlich die Idee, mit einem Gegenstand aus einem deutschen Museum nach Kenia zu reisen, um dessen Ursprünge und Bedeutungen herauszufinden.

Einige Leute haben uns gefragt, warum wir ihnen diesen Stab überhaupt zeigen

Dank der damaligen Kuratorin des Lindenmuseums konnten wir für unser Projekt einen Gegenstand aussuchen, der aus Kenia stammt. Es war ein besonders geschnitzter, hölzerner Stab, über den lediglich bekannt war, dass er von den Kikuyu * in Kenia aus Kenia stammte und 1903 ins Lindenmuseum kam. Allerdings konnten wir den Stab aufgrund strenger Lagerungsvorschriften nicht mit nach Kenia nehmen, sondern mussten eine digitale 3D-Version erstellen.

Elena Schilling: Für das Thema des Films war unsere länderübergreifende Kooperation besonders wichtig. Schließlich geht es um eine gemeinsame Geschichte und es ist wichtig diese sowohl aus kenianischer als auch aus deutscher Perspektive zu beleuchten. Die Kooperation hat natürlich auch die Wege verändert, die ein solcher Dokumentarfilm gehen kann: Unser Team war mehrsprachig und hatte verschiedene Kenntnisse und Verbindungen in beide Länder.

Es ist oft schwierig, die genaue Herkunft der Gegenstände zu ermitteln. Wie seid ihr mit so wenigen Informationen an die Suche herangegangen, wo habt ihr angefangen?

S.K.: Zunächst muss man sagen, dass nicht alle Abschnitte unserer Suche dazu dienten, etwas über die ursprüngliche Bedeutung des Gegenstands in Erfahrung zu bringen. Uns ging es insbesondere auch darum, die Emotionen und Reaktionen unterschiedlicher Menschen darauf einzufangen und uns der Bedeutung des Gegenstands so aus verschiedenen Perspektiven anzunähern. Die Suche begann im städtischen Kontext in Nairobi. Wir vermuteten aber schon, dass wir dort wahrscheinlich sehr wenig über die Geschichte des Stabs selbst erfahren würden. Dafür sind wir in ländliche Regionen, in Kikuyu-Dörfer gefahren und haben dort vor allem mit älteren Menschen gesprochen.

E.S.: Unser Ansatz war, so viele verschiedene Menschen wie möglich zu befragen: Ältere und Jüngere aller Geschlechter und aus verschiedenen Regionen. Wir wollten den Gegenstand für viele Menschen erfahrbar machen, da er sich in der Museumssammlung auf einem anderen Kontinent befindet. In Nairobi platzierten wir uns daher vor allem an öffentlichen Orten, die für alle zugänglich waren. Wer auch immer an unserem Stand vorbeikam, konnte sich die 3D-Version des Stabes auf unseren Tablets ansehen und mit uns sprechen.

Wie haben die Menschen auf die digitale Version dieses Gegenstands reagiert, der eigentlich Teil ihres kulturellen Erbes sein sollte?

E.S.: Die digitale Installation an sich zeigte die Abwesenheit des Objekts. Das sollte irritieren und es hat irritiert. Einige Leute haben uns gefragt, warum wir ihnen diesen Stab überhaupt zeigen, wenn er nicht in Kenia ist oder wie er überhaupt nach Deutschland gekommen sei. Im Grunde ist es dieser Umstand, den wir damit auch thematisieren wollten – dass der Stab eben nicht am richtigen Ort ist. Auch wenn wir ihn natürlich lieber physisch mitgenommen hätten, wurde dieser Irritationsprozess durch die digitale Installation erst möglich.

Gruppenfoto des Filmteams
Das Filmteam mit Saitabao Kaiyare und Elena Schilling

Saitabao Kaiyare: Eine unserer Befürchtungen war, dass manche unsere Installation als beleidigend oder zynisch empfinden oder sich nicht dafür interessieren würden. Das war letztendlich nicht so, aber viele hatten das Gefühl, dass sie keine Verbindung zu dem Stab herstellen können, weil die physische Präsenz fehlte. Um einen jüngeren Mann zu zitieren: »Ich kann dieses Objekt sehen, aber ich bin nicht damit verbunden. Es ist wie ein Bild in einem Buch, irgendwo.« Andere zeigten sich sehr wütend darüber, dass der Stab in einem deutschen Museum lagert und Kenianer*innen nur eine digitale Kopie dessen sehen ‚dürfen‘.

Welche Bedeutungen und Emotionen verknüpften die Menschen, die ihr befragt habt, mit dem Stab?

Saitabao Kaiyare: Viele Menschen reagierten sehr emotional, auch wenn die meisten nicht wussten, was dieser Gegenstand genau war. Eine Person sagte: »Ich möchte mehr über dieses Objekt erfahren. Ich wünschte, ich wüsste es.« Einige wollten ihre Großeltern fragen, ob sie etwas darüber wissen. Besonders bei den jüngeren Menschen konnte man eine Dringlichkeit erkennen, mehr über den Stab zu erfahren. Sie hatten das Gefühl, wenig über ihre eigene Geschichte zu wissen. Der digitale Gegenstand und die Unwissenheit darüber zeigte ihnen diese Leerstelle auf, die auch Teil der heutigen Bedeutung des Holzstabs ist.

Manche der älteren Menschen in den ländlichen Regionen waren anfangs eher skeptisch und vorsichtig, teilweise auch ängstlich. Eine ältere Frau fragte mich: »Do you want to take me to the ocean?« Das ist ein Sprichwort, das sich auf die Erfahrungen der Kolonisierung bezieht, die im kollektiven Gedächtnis stark mit dem Meer verknüpft sind. Sie fürchtete sich davor, sich mit dem Gegenstand auseinanderzusetzen.

Insgesamt zeigten die Reaktionen, dass der Stab heute nicht nur seine ursprüngliche Bedeutung trägt. Vielmehr ist das Objekt und seine Abwesenheit in Kenia mit dem ganzen Kapitel des Kolonialismus und den jeweils spezifischen Erfahrungen der Menschen in ihren Kontexten verbunden. Da zeigt sich die komplexe Geschichte, die ein einziger Holzgegenstand beinhalten kann.

»Do you want to take me to the ocean?«

Elena Schilling: Aus meiner Perspektive waren viele der Älteren, die wussten, wofür der Stab genutzt wurde, sehr emotional und auch nostalgisch. Sie erzählten Anekdoten und Geschichten: Der Ndorothi-Stab wurde in einem wichtigen Ritual verwendet, das von großer spiritueller und kultureller Bedeutung für die Kikuyu-Gemeinschaft ist.

Bei den jüngeren Menschen in Nairobi konnte man hingegen die Abtrennung von der eigenen Geschichte spüren. Viele haben vorher kaum über diese geraubten Gegenstände nachgedacht und waren überrascht oder irritiert.

Der Film zeigt einen starken Kontrast zwischen den Szenen und Reaktionen der Menschen in Kenia und denen der Besucher*innen in den deutschen Museen. Wie habt ihr diese Diskrepanz wahrgenommen?

Elena Schilling: Die Szenen fassen die gesamte Problematik der Rolle der Museen in der Restitution gut zusammen. Es gibt eine grundsätzliche Fehlkommunikation auf vielen Ebenen. Im Film wird die Eröffnung der Ausstellung »Wo ist Afrika?« im Lindenmuseum gezeigt. Die Kurator*innen hatten dabei zum Ziel, das Museum und das Verhältnis zu Afrika durch die Ausstellung zu dekonstruieren. Die Reaktionen der Besucher*innen zeigten aber, dass nicht jede*r verstanden hatte, dass es sich um eine Dekonstruktion handelte. Stattdessen schienen viele nach dem ‚echten Afrika‘ zu suchen. Eine Person meinte sogar, man müsse den ,Geruch‘ von Afrika in die Ausstellung integrieren. Die Ausstellung bestätigte viele Menschen mehr in ihrem kolonialen Blick, als dass sie diesen dekonstruieren konnte.

Die ganze Komplexität der Restitutionsdebatte ist von diesen Missverständnissen geprägt. Außerdem sind sehr viele verschiedene Leute mit unterschiedlichen Verantwortlichkeiten involviert, die jeweils unterschiedliche Interessen und Ansprüche verfolgen. Die Menschen aus postkolonialen afrikanischen Ländern haben natürlich eine ganz andere Verbindung zur Restitutionsdebatte. In Deutschland ist das Thema weniger emotional, und genau das nehmen wir auch bei den Filmvorführungen wahr. Umso wichtiger ist es, dass mehr Dialoge entstehen und Perspektiven ausgetauscht werden.

Ihr konntet die ursprüngliche Bedeutung des Stabs schließlich rekonstruieren. Wurde er nach Kenia restituiert?

Saitabao Kaiyare: Nein, der Stab befindet sich immer noch in der geschlossenen Sammlung des Museums. Nachdem wir aber seine Geschichte erzählt haben und die Emotionen und Bedeutungen, die damit verbunden sind, sollte der Stab zumindest einen Platz in der Ausstellung bekommen – genau, weil er diese Bedeutung hat, die nicht mehr von der Hand zu weisen ist.

Wenn das Museum über Restitution sprechen will, dann sollte der Stab nicht einfach im Lager verbleiben. Seine Geschichte muss weiterhin erzählt werden. Nach der Ausstellung sollte er natürlich zurückgegeben werden. Dass dies noch nicht geschehen ist, ist leider nicht verwunderlich, aber dennoch sehr traurig. Wir sind weiterhin in Kontakt mit dem Museum und versuchen die Debatte aufrecht zu halten.

Wie wird die Restitution in der kenianischen Öffentlichkeit diskutiert?

Saitabao Kaiyare: Restitution und Rückführung kolonialer Raubgüter sind ein großes Thema in Kenia. Viele Menschen engagieren sich dafür und doch herrscht Ungläubigkeit und Wut darüber, dass man immer noch um jeden einzelnen Gegenstand kämpfen muss, um ihn zu repatriieren.

Viele nutzen ihre spezifischen Fähigkeiten, um auf das Thema Restitution aufmerksam zu machen. Ein Projekt, das mich besonders inspiriert hat, ist das eines kenianischen 3D-Künstlers. Er hat in Online-Datenbanken nach Objekten gesucht, die sich in einem europäischen Museum befinden, um ein Virtual-Reality-Museum zu schaffen. Es handelt sich um ein Museum, das von überall zugänglich ist und auch in Frage stellen soll, was ein Museum eigentlich ist. Aber auch dabei bleibt die Frage, wo die physischen Originale eigentlich gelagert werden sollten.

Was ist eure Sicht auf die Ethnologischen Museen mit ihren kolonialen Sammlungen in Deutschland? Kann eine Institution wie das Lindenmuseum reformiert werden?

Elena Schilling: Wenn man zum Beispiel den Namen einer Straße ändert oder eine koloniale Statue loswird, ist es wichtig, diese in einen Kontext zu stellen. Meiner Meinung nach sollten diese nicht einfach entfernt werden, sondern in einen bestimmten Rahmen gesetzt werden, in dem die ungeschönte Geschichte erzählt wird. Es braucht diese Kontextualisierung, damit Menschen aufgeklärt werden können. Dasselbe gilt auch für Museen. Die ,Ethnologischen‘ Museen müssen nutzen, was sie haben, um zu zeigen, warum sie es haben. Sie müssen sich und ihre Geschichte sozusagen selbst ‚ausstellen‘. Und sie müssen bereit sein, Gegenstände ohne größere Hürden zu restituieren. Viele versuchen das, bei einigen bleiben die Bemühungen allerdings oberflächlich.

Der Film ist eine Art Lautsprecher für die Menschen in Kenia

Saitabao Kaiyare: Ich würde auch für die Reform des Wortes »ethnologisch« plädieren. Die Perspektive, die dem zugrunde liegt, ist sehr problematisch, da sie eine Trennung zwischen westlichen und nicht-westlichen Menschen und Gesellschaften vornimmt. Für den Westen sind die Anthropolog*innen zuständig – für den Nicht-Westen die Ethnolog*innen. Und in einem Ethnologischen Museum kann man dementsprechend nur Kulturgüter von nicht-westlichen und vermeintlich ‚primitiven‘ Gesellschaften betrachten. Diese Einteilung ist hierarchisierend und wirkmächtig: auch in Bezug darauf, wie die Besucher*innen die Ausstellungen in den Museen wahrnehmen. Diese Denkweise muss dekolonisiert werden, denn sie stützt asymmetrische Machtverhältnisse. Dazu gibt es bereits Ansätze und es gibt viele kritische Studierende und Forschende, die anstreben dieses Narrativ zu verändern. Gleichzeitig ist es wichtig, einen Kontext zu schaffen, um zu erklären, warum dieses Narrativ verändert werden muss und dabei auch Menschen mitzunehmen, die sonst wenige Berührungspunkte mit dieser Thematik haben.

Welche Rolle können Filme wie »If objects could speak« im Prozess der Restitution spielen?

Elena Schilling: Filme können das Thema Restitution auf besondere Art und Weise für Menschen erfahrbar machen, die sonst nicht damit in Berührung kommen. Ein Film kann Geschichten und Emotionen besonders greifbar für die Zuschauer*innen vermitteln. Insofern kann ein Film wie unserer eine Annäherung an das Thema Restitution bieten und einen niederschwelligen Einstieg, der verschiedene Menschen anspricht. Nicht nur Expert*innen, die akademische oder künstlerische Blase, sondern alle können daran teilhaben.

Unser Film nimmt die Zuschauer*innen in den gleichen Prozess mit, den wir bei der Produktion durchlaufen haben. Wir haben uns vorher wenig mit Restitution beschäftigt. Wenn man beginnt, sich damit auseinanderzusetzen, merkt man Schritt für Schritt, wie komplex und vielschichtig das Thema ist. Ich betrachte den Film dabei immer als eine Art Vorspeise. Er wirft Fragen auf, bietet aber keine vorgefertigten Antworten. Die Antworten und Lösungswege bilden sich schrittweise heraus, wenn Menschen anfangen miteinander zu reden, zu diskutieren und ihre Wut, Schmerz oder Fassungslosigkeit in Handlungen umsetzen. Diese Gespräche und Diskussionen müssen auf vielen verschiedenen Ebenen stattfinden, damit die Restitution vorankommt. Unser Film ist dabei Teil eines größeren Dialogs, zwischen Kenia und Deutschland, zwischen Afrika und Europa.

Saitabao Kaiyare: Der Film ist auch eine Art Lautsprecher für die verschiedenen Menschen in Kenia und kann diesen Stimmen mehr Gehör verschaffen. Wir haben gehofft, dass unser Film einen Dominoeffekt auslöst. Ich würde sagen, dass das auch geschehen ist. Er wird an vielen unterschiedlichen Orten und Kontexten in Europa und Afrika gezeigt. Dabei kommen unterschiedlichste Menschen zusammen und diskutieren darüber. Dann gehen sie in ihre Kontexte zurück und bringen vielleicht weitere Dominosteine in Bewegung. Das ist Teil von Restitution und von Wiedergutmachung. Es geht bei Restitution nicht nur um die bloße Rückgabe von Gegenständen, die Restitution ist Teil dieser Dialoge und Diskussionen.

Das Interview führte Annalena Eble, Mitarbeiter*in im iz3w.

Dieser Artikel ist erschienen im iz3w-Heft Nr. 392 Heft bestellen
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