Cover von »Kein Kind von Nichts und Niemand« mit weiblicher Silhouette

»Das Polit­ische bestimmt mein Da­sein«

Rezensiert von Martina Backes

17.08.2023
Veröffentlicht im iz3w-Heft 398

»Mein Körper ist politisch. Meine Existenz als schwarze Frau ist politisch.« Mit diesem Bewusstsein kommt niemand auf die Welt. Diese klaren Worte bringen einen zähen, kurvenreichen Erfahrungsprozess auf den Punkt. In ihrem Buch Kein Kind von Nichts und Niemand findet Aya Cissoko eine Sprache für ihren eigenen mühsamen Weg der Bewusstwerdung ihrer politischen Identität. Sie reflektiert auf einer familiären Spurensuche, wer sie ist und kommt zum Schluss: »Das Politische bestimmt mein Dasein«.

Der Vater ihres Kindes stammt aus einer Familie aschkenasischer Juden, die nach Auschwitz deportiert wurden. Ihre Mutter, die aus Mali nach Frankreich migrierte, bewahrte ein ausgeprägtes Zugehörigkeitsgefühl zu den Bambara, die koloniale Gewalt und postkoloniale Marginalisierung erfahren haben. Aufgewachsen im Ghetto in Paris, sieht sich die Autorin zudem als Kind der Schwarzen Arbeiter*innenklasse der Banlieues, das zum einen gegen afrikanische Traditionen rebellierte und sich zudem der französischen Assimilationspolitik widersetzte. Die zweimalige Weltmeisterin im Kickboxen und Autorin von drei Büchern findet in ihrem jüngsten Buch, das aus Briefen an ihre Tochter entstand, eine ganz eigene Form des Erzählens gelebter Geschichte. Sie versucht, Nichtgesagtes auszusprechen und Worte für unterdrückte Identitäten zu finden. Familiengeschichte bedeutet für die Autorin Selbstfindung und Politisierung des Privaten zugleich, denn Diskriminierung, Rassismus und Ausgrenzung sind die Konstanten, die ihr Bewusstsein mitprägten.

Sie weiß, dass Klassen­zugehörig­keit nicht vor Ras­sismus schützt.

Um den Faden zu ihrer Herkunft nicht zu verlieren, um öffentlich zu bereuen, dass sie das Verhältnis zu ihrer Mutter früh brach und vor allem, um der eigenen Tochter Anhaltspunkte zu geben, woher sie kommt und welche Geschichte sie in sich trägt, dafür hat Cissoko dieses Büchlein geschrieben. Sie bezeugt, was sie durchgemacht hat; und sie bezeugt die bewundernde Liebe zu ihrer Mutter, die gelitten hat, ohne zu verbittern.

Ihrem Kind wünscht die Autorin das Privileg der Sorglosigkeit und die Freiheit, selbst entscheiden zu können, wer sie ist. Dabei weiß sie, dass ein Kind einer Schwarzen Mutter und eines jüdischen Vaters einige Päckchen mit sich trägt. Sie weiß, dass Klassenzugehörigkeit nicht vor Rassismus schützt. Sie weiß, dass ihr Kind mehr ist als die Summe ihrer Herkunft. Die malischen, schottischen, französischen und die sozialen Herkunftsräume von Eltern und Großeltern bezeugen: »Du bist kein Kind von Nichts und Niemandem.«

Dieses Zeugnis abzulegen ist der Autorin auch aus einem politischen Grund wichtig. Angesichts der Tatsache, dass kolonisierende Gesellschaften wie die französische den Menschen der kolonisierten Regionen Identitäten gewaltvoll zuschreiben und ebenso gewaltvoll vorenthalten, ist es ein antikolonialer Akt, die eigene Herkunft zu betonen. Deshalb wäre es leichtfertig zu sagen, dass sich dieses Offenlegen von Herkunftsgeschichten – welches immer auch das Risiko in sich birgt, die Identität des eigenen Kindes damit vorwegzunehmen – in identitätsstiftender Gefühlsduselei verfängt und die Freiheit der Wahl beschneidet. Aber »individuelle Entscheidungen untergraben nicht das Funktionieren Jahrhunderte alter Strukturen«. Sich vor sich selbst zu verschließen, nicht zu wissen, woran man mit sich ist, das ist für Cissoko keine Option.

Aya Cissoko: Kein Kind von Nichts und Niemand. Übersetzung aus dem Französischen: Beate Thill. Afrika Wunderhorn, Heidelberg 2023. 120 Seiten, 16,99 Euro.

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