Eine Bewohnerin vor ihrem zerstörten Haus im ländlichen Afrin (Syrien)
Eine Bewohnerin steht vor ihrem zerstörten Haus im ländlichen Afrin in Syrien | ©ECHO AAREF WATAD

Kein Frieden in Syrien

Das syrische Regime wird trotz Krieg und Folter rehabilitiert

Vor 13 Jahren begann die Revolution in Syrien. Sie wurde unter Präsident Baschar al-Assad brutal zurückgeschlagen und in einen Rachefeldzug und fortwährenden Bürgerkrieg überführt. Zu Redaktionsschluss annektieren wiederum Aufständische unter der Führung der islamistischen Hayat Tahrir al-Sham das nordsyrische Aleppo. Währenddessen befindet sich die internationale Gemeinschaft auf Annäherungskurs zum Regime.

von Svenja Borgschulte

04.12.2024

In den vergangenen Jahren wurde Syrien zunehmend als befriedet dargestellt. Sogar die Rückkehr von Geflüchteten wird in Deutschland aktiv vorbereitet. Dabei hat sich die Lage vor Ort keineswegs beruhigt. Syrien bleibt ein Folterstaat, in dem das Assad-Regime unbeirrt den Krieg gegen die Bevölkerung fortführt. An vielen Orten werden Zivilist*innen bombardiert und im Nordosten Syriens vollzieht sich ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg der Türkei. Diese Realität wird ignoriert, um Abschiebungen zu rechtfertigen, während die dortige Bevölkerung unter Repression, Verfolgung, Bürgerkrieg und Hunger leidet – aber auch immer wieder aufbegehrt.

Die kleine Revolution

In Südsyrien kommt es seit über einem Jahr wieder regelmäßig zu Protesten. Die Demonstrationen sind Ausdruck der tiefen Unzufriedenheit mit dem Regime, das es angesichts der sich dramatisch verschlechterten Lebensbedingungen, der Misswirtschaft und steigender Kraftstoffpreise nicht schafft, die massive wirtschaftliche Notlage zu lindern. „Alshaeb yurid 'iisqat alnizam!“ – „Das Volk will den Sturz des Regimes“, hallt es jeden Freitag durch die Straßen der Provinzen Suweida und Daraa. Letztere gilt als die Wiege der syrischen Revolution im Jahr 2011.

Die öffentlichen Proteste in Regime-kontrollierten Gegenden sind bemerkenswert, weil sie für die Menschen ein großes Risiko darstellen. Die Niederschlagung der Revolutionsbewegung und die anhaltende Repression erschweren das Handeln gerade im aktiven Kern der Bewegung. Die politische Arbeit kann meist nur im Geheimen stattfinden. Unterstützung für die erneuten Proteste im Süden kommt deshalb vorwiegend aus den Gebieten im Norden Syriens, wie Idlib und Afrin, die nicht mehr unter der Kontrolle des Assad-Regimes stehen. Dort schließen sich die Menschen den Forderungen an und fordern das Ende der Folterherrschaft. Das erhoffte landesweite Lauffeuer blieb indes aus. Das liegt keineswegs an Assads Zustimmung in der Bevölkerung. Er sichert seine Macht mit brutaler Gewalt und Repression. Noch immer lässt er willkürlich Menschen in den Folterkellern verschwinden. Seit dem Aufstand 2011 sind es laut dem Syrian Network for Human Rights über 135.000 Personen.

In Suweida blieb es bislang weitgehend friedlich, denn im Vergleich zu anderen Provinzen ist der Sicherheitsapparat dort schwächer. In der Region leben überwiegend Angehörige der drusischen Minderheit. Die Beziehungen zwischen deren religiösen Führern und dem Regime galten in den vergangenen Kriegsjahren als neutral oder kooperativ. Diese Sonderstellung sicherte den Drusen eine relative Freiheit zu – auch in Bezug auf Demonstrationen – solange die Legitimität des Regimes nicht infrage gestellt wird. Bislang konnten die Menschen in Suweida deshalb weitgehend unbehelligt protestieren. Das dürfte mittlerweile aber auch daran liegen, dass Assad wieder um international politisches Ansehen bemüht ist. Bilder von blutigen Niederschlagungen friedlicher Proteste sind dafür kontraproduktiv. Stattdessen setzt das Regime auf gezielte Anschläge sowie Verhaftungen von Führern und Aktivist*innen abseits der Demonstrationen. Die Protestierenden in Suweida fordern unterdessen unbeirrt die Umsetzung der UN-Resolution 2254 von 2015, die einen geordneten und friedlichen Machtübergang und die Einsetzung „einer alle Seiten einschließenden“ Übergangs-Regierung vorsieht. Ein Ziel, das gegenwärtig jedoch in weiter Ferne liegt.

Zwischen Bomben und Islamisten

Nach 13 Jahren Krieg ist das Land in vier Einflusszonen geteilt: die kurdisch dominierte Autonome Verwaltung Nordostsyrien kontrolliert den Nordosten des Landes, während die Region Idlib im Nordwesten von der islamistisch-dschihadistischen Miliz Hai’at Tahrir al-Sham (HTS) beherrscht wird. Im Norden hält die Türkei besetzte Gebiete, das restliche Syrien steht unter der Kontrolle des Assad-Regimes von Präsident Baschar al-Assad​. Überall sind Folter, außergerichtliche Hinrichtungen und das ‚Verschwindenlassen‘ politisch missliebiger Personen an der Tagesordnung. Aber nicht nur die staatliche Gewalt macht das Land zu einem gefährlichen Ort. Die Waffengewalt hat im Land auch deshalb zugenommen, weil der langjährige Krieg nach innen eine tiefgreifende Militarisierung der Gesellschaft bewirkte. Die zunehmend schwierigen Lebensbedingungen, die unregulierte Verbreitung von Waffen und das Fehlen gesetzlicher Kontrollen tragen dazu bei – und Kämpfe sowie Vergeltungsakte zwischen verfeindeten Gruppen verfestigen die Gewaltstruktur.

Weite Teile Syriens hat Machthaber Baschar al-Assad mit russischer und iranischer Unterstützung zurückerobert. Dazu hält die Türkei zahlreiche Gebiete im Norden, darunter den kurdischen Kanton Afrin, völkerrechtswidrig besetzt und unterdrückt die dortige kurdische Bevölkerung. Von der Türkei finanzierte syrische Milizen sowie die türkische Militärpolizei begehen schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen und sind laut Human Rights Watch für Entführungen, willkürliche Verhaftungen, sexuelle Gewalt und Folter verantwortlich. Tausende Häuser, Ländereien und Besitztümer wurden enteignet, insbesondere von Menschen, die vermeintlich der kurdischen Selbstverwaltung angehören. Die Bewegungsfreiheit der Bevölkerung ist stark eingeschränkt. Zahlreiche Checkpoints und willkürliche Verhaftungen prägen den Alltag. Freigelassen wird nur, wer Lösegeld zahlt.

Die Lage im Nordosten ist vergleichsweise stabiler als im restlichen Land. In diesem Gebiet verwaltet die Autonome Verwaltung Nordostsyrien nahezu ein Drittel des gesamten syrischen Staatsgebietes. Der Anspruch des kurdischen Autonomieprojekts ist, dass dort alle ethnischen und religiösen Gruppen gleichberechtigt zusammenleben sollen. Dazu verfolgt es demokratische Ansätze, gewährleistet Pressefreiheiten und fördert eine aktive Zivilgesellschaft. Führungspositionen werden paritätisch und unter der Berücksichtigung der Minderheiten besetzt. Diese Schritte sollten jedoch nicht über schwerwiegende Probleme hinwegtäuschen: Auch hier werden Menschenrechtsverletzungen, willkürliche Inhaftierungen und Folter konstatiert, bei Gericht herrschen Korruption, Bestechung und Betrug, wie u. a. Human Rights Watch oder die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) dokumentieren.

Dazu kommt, dass ein vierter völkerrechtswidriger Angriffskrieg der Türkei gegen die Region das Demokratieprojekt an den Rand des Scheiterns bringt. Seit zwei Jahren erfolgen Angriffe mit Drohnen und Kampfjets in unterschiedlicher Intensität. Sie richten sich gegen Wohngebiete, landwirtschaftliche Betriebe, Industrieanlagen, Wasserwerke, Ölraffinerien, Elektrizitätswerke sowie Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen. Die zivile Infrastruktur ist im Nordosten Syriens in weiten Teilen zerstört. Gleichzeitig wird die Region durch die Terrororganisation ‚Islamischer Staat‘ (IS) destabilisiert. Immer wieder verüben radikal-islamistische IS-Kämpfer Anschläge. Deren Zahl und damit auch die der Opfer steigt. SOHR hat im vergangenen Jahr über 165 Angriffe des IS allein im Nordosten Syriens dokumentiert – das ist durchschnittlich einer an jedem zweiten Tag.

Verschiedene Fronten, gleiche Not

In der Provinz Idlib hat die Türkei großen Einfluss und unterhält eine militärische Präsenz, während weite Teile der Region von der islamistischen Miliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS) kontrolliert werden. Die Beziehung zwischen beiden Akteuren ist von wachsenden Spannungen geprägt. Auch innerhalb der Zivilbevölkerung wächst der Widerstand gegen die HTS. Regelmäßig kommt es zu Protesten gegen die Dschihadisten, die zunehmend diktatorisch agieren. Die Forderungen der Menschen sind klar: ein Ende der Folter in den Gefängnissen der HTS, die Freilassung der Gefangenen sowie politische und wirtschaftliche Reformen. Angesichts der katastrophalen wirtschaftlichen Lage und der humanitären Not ist die Situation am Siedepunkt angelangt.

Idlib ist zur Zufluchtsstätte für Millionen Menschen geworden, die vor dem Assad-Regime fliehen mussten. Die meisten von ihnen leben auch hier unter äußerst prekären Bedingungen in Zeltlagern. Mit den verheerenden Erdbeben im Februar 2023 verschlechterte sich die Situation der Menschen in der Region massiv. Bereits vor den Beben waren über 90 Prozent auf humanitäre Hilfe der Vereinten Nationen (UN) angewiesen und waren unterversorgt. Die Notlage hat sich weiter verschärft und der Bedarf gerade an humanitärer und medizinischer Hilfe ist signifikant gestiegen. Trotzdem werden aufgrund unzureichender Finanzierung internationale Hilfsprogramme eingestellt.

Darüber hinaus ist Idlib ständigen Angriffen durch das Assad-Regime und dessen Verbündetem Russland ausgesetzt. Dabei werden Ziele wie Schulen, Märkte oder Krankenhäuser ins Visier genommen. Besonders grausam ist die sogenannte ‚Double-Tap-Taktik‘, bei der dasselbe Ziel innerhalb kurzer Zeit zweimal angegriffen wird, um auch die herbeieilenden Rettungskräfte zu treffen. Obwohl seit Anfang 2020 ein offizieller Waffenstillstand für die Region gilt, hatte dieser faktisch nie Bestand. Einen Ausweg gibt es für die Zivilbevölkerung nicht: Weil die Türkei ihre Grenze abgeriegelt hat, gibt es für die 4,5 Millionen Menschen keine Fluchtmöglichkeit. Sie sitzen zwischen der Frontlinie des Assad-regierten Gebiets und der mit einer Mauer gesicherten türkischen Grenze fest.

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Die Lage könnte sich bald noch weiter verschärfen: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan ist derzeit auf Versöhnungskurs mit Assad. Der hat den vollständigen Abzug der türkischen Truppen aus Syrien stets zur Bedingung für Gespräche gemacht. Nun zeigt sich Erdoğan bereit, seine Militäreinsätze zu beenden und sich aus Syrien zurückzuziehen. Im Gegenzug soll Assad die syrischen Geflüchteten zurücknehmen – knapp 3,5 Millionen Menschen. Zwar führt die Türkei bereits umfangreiche Massenabschiebungen nach Syrien durch, doch der Nordwesten des Landes stößt zunehmend an seine Kapazitätsgrenzen. Für den geplanten großangelegten Abschiebecoup von mindestens zwei Millionen Menschen braucht Erdoğan daher die Kooperation Assads. Die Annäherung zwischen der Türkei und Assad könnte zu einer weiteren Eskalation führen, wenn Gebiete im Norden wieder unter die Kontrolle des Regimes fallen. Dies wäre besonders gefährlich für die Zivilbevölkerung, die einst vor Assad geflohen ist. Zudem wird die islamistische HTS ihre Kontrolle über die Region nicht kampflos aufgeben.

Obwohl der türkische Präsident wiederholt seine Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit Assad erklärt hat, bleibt dieser zurückhaltend. Langfristig erscheint eine Annäherung der beiden Machthaber als wahrscheinlich, in Stein gemeißelt ist sie aber keineswegs. Neben den erforderlichen Zugeständnissen beider Seiten hängt eine solche Entwicklung maßgeblich von den geopolitischen Interessen der USA, Irans und Russlands ab.

Abschiebepartner Assad

Eine Tendenz der letzten Jahre ist die schleichende Normalisierung des Assad-Regimes auf internationaler Ebene. Im Mai 2023 nahm Assad zum zweiten Mal nach seinem Ausschluss 2011 wieder am Gipfel der Arabischen Liga teil. Einige europäische Staaten, darunter Italien, haben begonnen, diplomatische Beziehungen zu Syrien wiederaufzunehmen. Mehrere EU-Länder setzen sich mit Nachdruck dafür ein, die Beziehungen der EU zu Syrien zu verbessern und Geflüchtete dorthin abzuschieben. Dabei ist der Machthaber nicht nur international sanktioniert. Gegen ihn liegt auch ein französischer Haftbefehl wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor.

Auch in Deutschland wird inzwischen offen über Abschiebungen nach Syrien diskutiert. Ein Abschiebeflug ist laut der Bundesregierung bereits in Planung. Dabei verstoßen diese Pläne gegen fundamentale Menschenrechte und internationale Konventionen und sind damit rechtswidrig. Die Europäischen Menschenrechtskonvention, die Genfer Flüchtlingskonvention und §60 Aufenthaltsgesetz verbieten die Abschiebungen in Länder, in denen Folter und unmenschliche Behandlung drohen. Die Einstufung von ‚sicheren‘ Regionen in Syrien ist eine Illusion, die die katastrophal schlechte Sicherheitslage im Land ignoriert.

Diese Annäherungen an das syrische Regime legitimieren einen Diktator, der für systematische Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ist und sie blenden die Lebensrealitäten der Menschen im Land aus. Diese Tendenz könnte durch die aktuelle prekäre Situation im Libanon noch verstärkt werden. Seit Wochen fliehen Hunderttausende Menschen vor den israelischen Bomben nach Syrien. Viele der syrischen Rückkehrer*innen fliehen dabei in der Hoffnung, die befreiten Gebiete im Nordwesten Syriens zu erreichen und dem Assad-Regime zu entkommen. Dafür müssen sie aber zunächst durch von Assad kontrolliertes Gebiet. Und als Geflohene gelten sie als mutmaßliche Gegner Assads. Es ist zu befürchten, dass diese Fluchtbewegung politisch instrumentalisiert und als Zeichen für Stabilität in Syrien dargestellt wird, um eigene politische Agenden umsetzen zu können: von Abschiebungen bis zum Protegieren der syrischen Diktatur.

Keine Hoffnung ohne Unterstützung

Während die Rehabilitierung des Assad-Regimes voranschreitet, drohen die Stimmen der syrischen Zivilgesellschaft zu verstummen. Zivilgesellschaftliche Organisationen und Aktivist*innen, die sich unermüdlich für Menschenrechte und Demokratie einsetzen, sind oft die einzigen Lichtblicke in dem von Gewalt und Unterdrückung geprägten Land. Ihre Arbeit wird jedoch durch die systematischen Angriffe des Regimes und anderer bewaffneter Gruppen erheblich erschwert.

Ohne internationale Unterstützung und eine konsequente politische Haltung der westlichen Staaten gegenüber dem Assad-Regime drohen die Bemühungen der Zivilgesellschaft im Sand zu verlaufen. Das aktuelle Versäumnis der internationalen Gemeinschaft dabei, die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen zu benennen, ist fatal. Denn die Zivilgesellschaft Syriens braucht diese Unterstützung. Sie ist nicht nur eine zentrale Säule im Kampf um die Zukunft Syriens, sondern auch ein unverzichtbarer Bestandteil jeglicher friedlichen Lösung.

Es wird eine entscheidende Rolle spielen, die internationale Aufmerksamkeit auf die Situation in Syrien zu lenken, um das verzerrte Narrativ eines „befriedeten“ Syriens zu entkräften und den Druck auf das Regime aufrechtzuerhalten. Dafür müssen die anhaltenden Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie der Bruch des Kriegs- und Völkerrechts ins Zentrum der Debatte rücken und von internationalen Akteur*innen sanktioniert werden.

Svenja Borgschulte ist Pressesprecherin und Mitglied der Geschäftsführung bei der deutsch-syrischen Solidaritäts- und Menschenrechtsorganisation Adopt a Revolution.

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