Flüchtenden in Auto vor Terror und Bandengewalt in Haiti.
Flucht im Oktober 2016. Heute befinden sich etwa 360.000 Menschen innerhalb von Haiti auf der Flucht vor dem Terror der Gangs | Fotos: Jürgen Schübelin

»Es geht nicht nur um Beute­züge«

Interview über die haitianische Krise mit Caridade Valcourt

Wer über die Vielfachkrise reden will, darf von den Krisenstaaten wie etwa Haiti nicht schweigen. Darüber sprachen wir mit der Frauen- und Kinderrechts-Aktivistin Caridade Valcourt aus dem Kindernothilfe-Haiti-Team in einem Video-Interview. Zu dem derzeitigen Alltag der Haitianerinnen und Haitianer sagt sie im Vorgespräch: »Jeden Abend denken wir, es kann nicht noch schlimmer kommen, aber am nächsten Morgen werden wir eines Besseren belehrt: In diesem Inferno gibt es kein Sicherheitsnetz und keine Haltelinien.«

Das Interview führte Jürgen Schübelin

06.05.2024
Veröffentlicht im iz3w-Heft 402
Teil des Dossiers Die Vielfach­krise

Wenn die Krise zur Katastrophe wird

Haiti ist nicht zum ersten Mal von einer dramatischen Vielfachkrise betroffen. Die 1804 als erste und weltweit einzige von ehemaligen Sklaven gegründete Republik leidet bis heute unter den Folgen der spanischen und französischen Kolonialherrschaft (iz3w 381), ihrer subalternen Rolle in der Weltwirtschaft als Agrarstaat und Plantagen-Standort mit chronisch schlecht entwickelter Infrastruktur, an einer Abfolge dysfunktionaler politischer Diktaturen wie etwa der berüchtigten Herrschaft der Duvaliers 1957 bis 1986 sowie an den Folgen dreier Naturkatastrophen seit 2010: »Die Menschen mussten sich selbst helfen«.

Haiti zählt als einziges Land der westlichen Hemisphäre zu den am wenigsten entwickelten Ländern der Welt. Die Binnenwirtschaft ist kaum ausgeprägt und zieht wiederum die Abwanderung der gut ausgebildeten Staatsbürger*innen nach sich – seit Mitte der 1990er-Jahre über drei Millionen Menschen. Nach den verheerenden Folgen des Erdbebens 2010 reproduzieren sich die Probleme im Inselstaat weiter: Auf den wirtschaftlichen Niedergang und Verfall der Infrastruktur folgt ein weiterer Niedergang des formellen Wirtschaftssektors gegenüber dem informellen Sektor (iz3w 386). Kriminalität und organisiertes Verbrechen mit Schutzgelderpressungen, Kidnapping, Menschen-, Waffen- und Drogenschmuggel (iz3w 389) sind die einzigen prosperierenden Wirtschaftsbranchen. Der schwache haitianische Staat kann dem juristisch und sozialpolitisch so gut wie nichts mehr entgegensetzen. Die Probleme eskalieren ab dem Jahr 2018 zu wirtschaftlichen und politischen Krisen, die sich gegenseitig bedingen. Die Inflationsraten betragen stets über 15 Prozent gegenüber den Werten des Vorjahres. Anfang 2023 springen sie in Raten weit über 40 Prozent. Gewalttätige Banden ergreifen zunehmend die Herrschaft im Inselstaat.

Einerseits zeigt sich am Beispiel Haiti, dass die Katastrophe eine komplexe politische und ökonomische Vorgeschichte hat, bei der Armut eine große Rolle spielt (iz3w 394). Weiter zeigt sich, dass es Kipppunkte gibt, ab denen eine externe Hilfestellung dringend geboten ist. Die faktische Diktatur der Banden auf Haiti, ihre Kontrolle über das wirtschaftliche und öffentliche Leben, markiert so einen Kipppunkt. Caridade Valcourt schätzt das so ein: »Dieses Gefühl des völligen Ausgeliefertseins, die ständige Angst um die eigenen Kinder und davor, jederzeit selbst Opfer von Gewalt werden zu können, bestimmen den gesamten Tagesablauf der allermeisten Menschen, die in den von Banden kontrollierten Teilen Haitis leben.« In der Hauptstadt Port-au-Prince betrifft das inzwischen 90 Prozent der Bevölkerung. Hinzu kommen die sich dramatisch zuspitzenden Versorgungsprobleme sowie die wachsenden Schwierigkeiten, ausreichend Trinkwasser und Nahrung zu beschaffen. 5,5 Millionen – knapp die Hälfte der Menschen im Land – sind nach jüngsten Zahlen des Welternährungsprogramms entweder bereits stark unterernährt oder von akutem Hunger bedroht.

Andererseits zeigt Haiti, dass es Ansatzpunkte im Land gibt, aus denen heraus die Verbesserung der Lebensumstände möglich ist. Dazu gehört die Arbeit der Frauen aus der haitianischen Selbsthilfegruppen-Bewegung Gwoup dantred, um die es auch im vorliegenden Interview geht. js/red

 

 

iz3w: In der Nacht zum 3. März überfielen schwerbewaffnete Banden die zwei größten Gefängnisse Haitis. 4.500 inhaftierte Gangmitglieder kamen frei. Wie hat das die Situation der Menschen in den Bidonvilles, den Armenvierteln von Port-au-Prince, verändert?

Caridade Valcourt*: Zuerst ging es diesen Banden auch darum, dem ganzen Land, den Vereinten Nationen und den internationalen Unterstützern von Interims-Ministerpräsident Ariel Henry, den Kontrollverlust und die Hilflosigkeit der staatlichen Institutionen Haitis vorzuführen. Mit Erfolg: Ariel Henry kündigte am 12. März von Puerto Rico aus seinen Rücktritt an. Die Banden sagten damit: Seht her, niemand kann sich uns in den Weg stellen!

Seit dieser Nacht auf den 3. März ist der letzte Rest an Alltag, der den Menschen geblieben war, einem blutigen Albtraum gewichen: Die aus den Gefängnissen geholten 4.500 Häftlinge beteiligten sich sofort an Plünderungen von Geschäften, Überfällen auf Ministerien, Polizeistationen, Banken. Auch die Terminals, Containerlager und Quais im Hafen von Port-au-Prince waren betroffen. Über den Hafen kommt der größte Teil der internationalen Hilfsgüter, etwa des Welternährungsprogramms, ins Land. Und sie griffen die zwei einzigen internationalen Flughäfen an, so dass es auch keine Verbindungen mehr auf dem Luftweg von und nach Haiti gibt.

Für die Menschen in den Bidonvilles ist eindeutig der Zusammenbruch der Versorgung mit Nahrungsmitteln und Trinkwasser das größte Problem. Wenn damit die Arbeit der tausenden kleinen Händler*innen auf den Straßen nicht mehr möglich ist und es die Lastwagenfahrer mit den Wassertanks nicht mehr bis in die Armenviertel schaffen, wird es ganz schnell lebensbedrohlich. In den Krankenhäusern fehlen Medikamente und Treibstoff für die Stromgeneratoren. Dass sie dort nach Überfällen und Brandschatzungen durch Gangs und nach der Ermordung von Ärzten und Pflegepersonal die Arbeit einstellen müssen, macht aus der Krise schlicht eine Katastrophe.

 

Gibt es für die Menschen im Großraum Port-au-Prince noch Möglichkeiten, sich zu schützen?

Mit dem Einbruch der Dunkelheit verbarrikadieren sich die Menschen in den Hütten und Häusern. Auch am Tag ist nur unterwegs, wer unbedingt muss. Die allermeisten Kinder gehen nicht mehr zur Schule. Die Ausübung all der für Haiti so typischen informellen Tätigkeiten, um Geld zu verdienen, ist extrem gefährlich geworden. Und seit Anfang März steigen die Zahlen derjenigen, die aus der Hauptstadt herauswollen, massiv weiter: Die Vereinten Nationen sprechen mittlerweile von 360.000 Binnenflüchtlingen! Das Problem ist, dass es inzwischen nur noch ganz wenige Orte und Gebiete gibt, in denen die Menschen sicher vor dem Terror der Gangs sind. Ende 2023 war zumindest in den Departments im Nordosten und Süden die Lage noch einigermaßen stabil. Aber auch das ist Geschichte: Aus Saint-Marc, Gonaïves, Cap-Haitien, Ouanaminthe, Miragoâne, Jacmel und auch vielen kleineren Städten häufen sich die Berichte über Gewalttaten schwerbewaffneter Banden. Die Gangs kontrollieren inzwischen alle Straßenverbindungen. So wirkt Haiti mittlerweile wie ein in viele kleine Einzelteile zerschlagenes Scherbenfeld.

 

Sie koordinieren jetzt seit zehn Jahren das Netzwerk der Frauenselbsthilfe-Gruppen in Haiti, die Gwoup dantred-Bewegung. Wie ist es inmitten einer so komplexen Multikrise überhaupt möglich, dass sich die Frauen weiter treffen und weiter arbeiten?

Diese Bewegung entstand 2010, 2011, kurz nach der Erdbebenkatastrophe mit ihren vermutlich über 250.000 Toten und hunderttausenden Menschen in riesigen Zeltlagern. Sie war eine Antwort auf die Praxis internationaler Organisationen, die Haiti nach dieser Jahrhundertkatastrophe regelrecht fluteten; und oft völlig unkoordiniert Hilfsgüter verteilten. Da wurden weder die Betroffenen mit einbezogen noch irgendeine Perspektive von Nachhaltigkeit entwickelt.

Bei den Gwoup dantred geht es hingegen darum, dass sich Frauen in Lebenssituationen von Armut und extremer Armut – unterstützt von lokalen Nichtregierungs-Organisationen – selbst in kleinen Gruppen zusammentun. Sie fangen an, durch bescheidene wöchentliche Sparbeiträge, die sie selbst verwalten, die Möglichkeit zu schaffen, reihum untereinander Darlehen zu vergeben. Von diesem Geld finanzieren die Frauen kleine Geschäftsideen. Sie kaufen zum Beispiel in der nächsten Stadt Dinge des täglichen Bedarfs ein, die sie weiterverkaufen. Mit dem Erlös zahlen sie das Darlehen zurück und erwirtschaften einen kleinen Gewinn, der die Situation ihrer Familien verbessert.

»Auch am Tag ist nur unterwegs, wer unbedingt muss«

Die territoriale Kontrolle durch die Gangs hat die Arbeit der Frauengruppen komplett verändert. Es ist praktisch nicht mehr möglich, dass sie sich offen treffen, um ihre wöchentlichen Versammlungen abzuhalten. Und weil man nirgendwo mehr unbehelligt durchkommt, können auch die Einkaufs- und Versorgungsfahrten in die größeren Städte mit ihren Märkten nicht mehr offen stattfinden. Aus einer stolzen, selbstbewussten Bewegung organisierter und erfolgreicher Frauen ist eine Art unsichtbares Netzwerk geworden!

 

Wie reagieren die Frauen aus den Gwoup dantred auf diese Entwicklung? Wie müssen wir uns die Arbeit dieses Netzwerkes unter diesen Bedingungen vorstellen?

Die Lage in den verschiedenen Departments unterscheidet sich zum Teil deutlich. Überall gibt es jedoch die enorm gestiegenen Kosten für Nahrungsmittel und Dinge des täglichen Bedarfs. Zum Teil versuchen die Frauen, an den Kontrollposten der Gangs vorbei in die Städte zu gelangen, etwa nach Gonaïves oder sogar nach Port-au-Prince. Sie kaufen dort nach Möglichkeit Produkte ein und versuchen, sie wieder herauszuschmuggeln. Unterstützt werden sie von Frauen aus anderen Selbsthilfegruppen. Diese informieren sie über das Handy darüber, wo gerade Bandenmitglieder unterwegs sind. Zum Teil lassen sich die »Mautstellen« der Gangs aber nicht komplett umgehen. Dann versuchen die Frauen, möglichst niedrige »Tarife« auszuhandeln, um durchgelassen zu werden. All das erhöht die Kosten und macht die Arbeit der Gwoup dantred schwieriger und gefährlicher.

Dazu kommt, dass die Tap-Tap-Verbindungen (Fahrten mit zu Sammeltaxis umgebauten Pick-ups) oder Lastwagen-Routen in vielen Departments nicht mehr existieren, weil es kaum noch Treibstoff gibt. Zum Teil sind nur noch Motorräder unterwegs, die jeweils ein oder zwei Passagiere befördern. So eine Tour dauert jetzt zwei Tage hin und zwei Tage zurück – oder noch länger.

 

Was ist aus den Versammlungen der Frauen geworden?

Die Gruppen berichten, dass sie nicht mehr offen, also im Freien, zusammenkommen. Sie treffen sich in einzelnen Hütten, zu unterschiedlichen Zeiten und oft nur ganz kurz. Die Treffen werden immer mit den Handys koordiniert und zusammen mit Menschen aus der Nachbarschaft. Sie warnen, wenn bewaffnete Gangmitglieder auftauchen. Überhaupt spielen Prepaid-Handys für die Frauen-Selbsthilfegruppen eine vitale Rolle: Über sie werden nicht nur Informationen ausgetauscht, Treffen koordiniert und Absprachen getroffen. Die Handys sind auch das Instrument, um kleinere Geldbeträge zu transferieren. Und für uns im Koordinationsteam ist das Handy das Medium, um die Gruppen zu unterstützen und ständig – etwa über WhatsApp – im Kontakt zu bleiben.

 

Diese Beschreibung des Wirtschaftens hört sich an wie ein Bericht über die Aktivitäten einer Untergrundorganisation in einem besetzten Land …

Nur, dass in diesem Fall die Besatzer aus den Armenvierteln der eigenen Städte kommen. Und dass es keinerlei Regeln und Grenzen für die Brutalität und Gewalt selbst gegenüber den Schwächsten und Ärmsten gibt! Es ist bitter: Zuletzt wurden auch Frauen aus der Gwoup dantred-Bewegung Opfer von Entführungen und Lösegelderpressungen. In einem Fall lautete die Forderung: 4.000 Dollar für die Freilassung einer jungen Mutter! Aber es geht nicht nur um Raub- und Beutezüge, Lösegeld- und Schutzgelderpressungen; sondern immer auch um territoriale Kontrolle und totale Macht über die in einem Gebiet lebenden Menschen.

 

In Berichten über Gewaltexzesse von Gang-Mitgliedern ist immer wieder von brutalen Vergewaltigungen und Misshandlungen von Frauen die Rede. Welche Rolle spielt in diesem apokalyptischen Szenario das Thema toxische Männlichkeit?

Eine ganz zentrale. In der Welt dieser jungen Männer, für die es zuvor in ihrem Leben nie eine Perspektive gab und die sich jetzt mit einer automatischen Waffe in der Hand mächtig fühlen, deren Selbstbewusstsein wächst, weil sie spüren, dass Menschen Angst vor ihnen haben, ist sexualisierte Gewalt Teil dieses Adrenalin-Kicks. Frauen unterwerfen und verletzen zu können, ohne das Risiko, dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden: Das ist neben dem versprochenen Reichtum ein zusätzlicher Motivationsfaktor des ‚Jobangebots‘ durch Warlords wie Jimmy ‚Babekyou‘ Chérizier. Dahinter steckt ein archaisch-brutales Weltbild: Frauen müssen sich unterordnen, dienen, sind nirgendwo sicher und haben keinerlei Rechte! Ich bedauere sehr, dass in vielen Berichten über Haiti dieser Aspekt immer zu kurz kommt.

 

Gibt es irgendetwas, was in dieser Situation trotzdem Mut macht?

Ja, dass es dieses Netzwerk unterhalb des Radarschirms der Warlords und ihrer Gangs immer noch gibt. Die Zahl der Frauen in den Gruppen ist zuletzt sogar gewachsen! Ganz beeindruckend finde ich, wie Frauen aus den Gwoup dantred in und um Port-de-Paix im Département Nord-Ouest andere Frauen und ihre Kinder, die vor dem Bandenterror geflohen sind, aufgenommen haben. Es berührt mich sehr, wie wichtig den Frauen das Nicht-Abreißen-Lassen des Austauschs untereinander ist. Und wie kreativ sie dafür die Möglichkeiten von Apps und anderen Instrumenten digitaler Kommunikation nutzen. Und dann natürlich ihr Mut und ihr Erfindungsreichtum, um in kürzester Zeit Schmuggel- und Versorgungsrouten organisiert zu haben und diese intensiv zu nutzen! Das ist richtig beeindruckend!

 

Was brauchen die Gwoup dantred in dieser Situation von uns?

Wir benötigen finanzielle Hilfe, um dieses Netzwerk im Untergrund zu unterstützen; Mittel, die wir den Gruppen direkt per Handy-Überweisung zukommen lassen können. Das sorgt bei den immens gestiegenen Logistik-, aber auch Telefonkosten für etwas Entlastung. Mein größter Traum wäre, dass sich französisch- und kreole-sprechende Menschen mit psychotherapeutischer Ausbildung außerhalb von Haiti motivieren ließen, um per WhatsApp oder in Videoschalten psychologische Unterstützung anzubieten. Wir haben hier Frauen, Kinder und Jugendliche, die Opfer von Gewalt geworden sind. Es wäre akut nötig, ihnen zu helfen; über eine Art von Notfall-Telemedizin unter Extrembedingungen!

Das Interview führte Jürgen Schübelin.

Dieser Artikel ist erschienen im iz3w-Heft Nr. 402 Heft bestellen
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