Deutscher Narzissmus

Editorial

»Der 7. Oktober 2023 stellt eine Zäsur dar.« Diesen Satz haben wir in den vergangenen zwei Monaten oft gehört. Bei dem Massaker der radikal-islamistischen Hamas wurden
nach aktuellem Stand 1.239 Menschen ermordet, größtenteils Zivilist*innen. In Kampfhandlungen, in die die israelische Armee seit der Staatsgründung 1948 involviert war, kamen teils mehr jüdische israelische Staatsbürger*innen zu Tode, jedoch überwiegend Militärangehörige. Dass so viele Zivilist*innen auf einen Schlag umgebracht wurden, macht den 7. Oktober zu einem einschneidenden Ereignis in der jüdischen Geschichte seit der Shoa. Viele sprechen daher von einem Pogrom. Der Begriff kommt aus dem Russischen, bedeutet ‚Verwüstung‘ oder ‚Zertrümmerung‘ und wurde seit einer Reihe antisemitischer Ausschreitungen im zaristischen Russland der 1880er-Jahre für diese Form von gewalttätigen Übergriffen auf die jüdische Zivilbevölkerung verwendet, später auch für mobartige Gewaltausbrüche gegen über anderen Minderheiten. Es sind Ereignisse, in denen eine Bevölkerungsgruppe Angehörige einer Minderheit attackiert, sie ermorden will und dies auch tut, solange keine Staats- oder Gegenmacht eingreift. Auch deswegen gilt der 7. Oktober als Zäsur: Der Staat konnte seine Bürger*innen nicht schützen.

Sag, wie hältst Du es mit Israel?

Wie kein anderer Konflikt spaltet der Nahostkonflikt. Weltweit, aber insbesondere in Deutschland. Die Spaltung zieht sich durch alle Gesellschaftsschichten, besonders jedoch durch die Linke. Sag, wie hältst Du es mit Israel? Doch warum prallen hier Weltbilder aufeinander? Der kleine Staat bietet eine große Projektionsfläche. Man identifiziert sich, und zwar stark, entweder mit den größtenteils jüdischen Israelis oder mit der palästinensischen Bevölkerung.

Auch im iz3w streiten wir uns. Anti-Imps gegen Anti-Deutsche, Ideologiekritiker*innen vs. Postcolonial Studies, Antisemitismus-Expert*innen gegen Antirassist*innen. Als deutsche Linke, deren Gesellschaftsanalyse nicht zuletzt geprägt ist durch die Shoa, ist es nicht möglich, den jüdischen Staat als bloße Kolonie, als Apartheidsstaat ohne Daseinsberechtigung abzuwatschen – bei aller notwendigen Staatskritik, insbesondere gegen Netanjahus Frontalangriff auf den Rechtsstaat. Gerade wegen unserer Beschäftigung mit Kolonialismus, Imperialismus, Rassismus und internationaler Solidarität bereiten uns manche Interpretationen der Geschehnisse vom 7. Oktober fast schon körperliche Schmerzen. Der (wenn auch bisweilen unbeabsichtigte) Zynismus vieler internationaler Antirassist*innen und postkolonialer Theoretiker*innen, die das antisemitische Pogrom zum Widerstandsmoment umdeuteten oder die Hamas zur Befreiungsbewegung stilisierten, machte uns, die sonst zu allem etwas zu sagen haben, sprachlos. Gleichzeitig geht das Leiden der palästinensischen Bevölkerung keineswegs spurlos an uns vorbei. Gerade jetzt, wo die israelische Militäroperation gegen die im Gazastreifen verschanzte Hamas über 16.000 zivile Opfer fordert. Es ist kein Widerspruch, mit der Zivilbevölkerung beider Seiten solidarisch zu sein, ohne das Leid der jeweils anderen Seite zu relativieren. Zwischen dem Verurteilen der antisemitischen Gewaltorgie und der Kritik am massiven Militäreinsatz sollte eigentlich kein politischer Spagat notwendig sein. Doch wir schwitzen gehörig und diskutieren uns die Köpfe heiß, denn in der Praxis ist die Aushandlung der Positionen ein schweres Unterfangen, selbst für uns trainierte Diskutant*innen. Und wir machen das nun schon seit 400 Ausgaben✶.

Trotz unserer Orientierung in die weite Welt sind wir wieder einmal damit beschäftigt, vor der eigenen Haustür zu kehren. Während sich die deutsche Linke über den Nahostkonflikt zerlegt, werden neue Asylgesetzverschärfungen auf den Weg gebracht, deutsche Politiker*innen befeuern mit der Rede vom importierten Antisemitismus den rassistischen Diskurs und haben dabei die Aiwanger-Affäre schon wieder vergessen. Glaubwürdiger Antifaschismus würde nicht im Schatten der Gräuel gegen Israelis ausgerechnet in Deutschland das Asylrecht verschärfen und Fluchthilfe kriminalisieren. Der Angriff auf das Recht auf Schutz vor Verfolgung ist getragen von der Vorstellung, alle wollten nach Deutschland kommen. Dieser Irrglaube offenbart den deutschen Narzissmus, und der kann vom Nazismus nicht ablassen.

Wenn Nazis auf Demos antisemitische Parolen brüllen, heißt es oft, man müsse die Meinungsfreiheit der besorgten Bürger*innen wahren. Wenn muslimisch gelesene Menschen ihre Meinung öffentlich zum Ausdruck bringen, sitzt der Volksverhetzungsparagraf scheinbar lockerer. Das beklagt auch Saba-Nur Cheema und erwartet von der Linken, dass sie gegen Antisemitismus und die Bedrohung jüdischen Lebens kämpft und gleichzeitig antimuslimischen Rassismus erkennt und verurteilt»Der Nahost­konflikt ist eine Projektions­fläche«. Dem schließen wir uns an,

die redaktion

✶ 400 Ausgaben seit 1970, das ist auch in düsteren Zeiten wie diesen ein Grund zu feiern. Dafür laden wir am 12.1. 2024 in den Slow Club in Freiburg ein.

Dieser Artikel ist erschienen im iz3w-Heft Nr. 400 Heft bestellen
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