»Ein Akt von Staatsterrorismus«
Kurdische Journalist*innen im Visier staatlicher Verfolgung
Luftkrieg und fadenscheinige Prozesse
Im Kampf gegen Selbstbestimmungsrechte der Kurd*innen führt die Türkei kontinuierlich Angriffe auf kurdische Gebiete im Norden Syriens und im Irak durch. Insbesondere die nordostsyrische Autonomieregion Rojava steht im Fokus dieses Angriffskriegs. Die Region wird 2024 fast täglich aus der Luft militärisch attackiert, was vornehmlich auf die Zerstörung ziviler Infrastruktur abzielt. Das nordsyrische Afrin hält die Türkei seit Januar 2018 besetzt, unabhängige Medienarbeit vor Ort hat es schwer.
Unter dem Vorwand der Bekämpfung des »PKK-Terrorismus« ist die gezielte Unterdrückung von Journalist*innen und teilweise sogar deren Ermordung ein fester Bestandteil der türkischen Kriegsstrategie. Insbesondere der irakische Teil Kurdistans (Nordirak) hat sich 2024 zu einem der tödlichsten Orte für Journalist*innen gewandelt. Binnen zwei Monaten wurden hier drei Journalist*innen von Drohnen getötet, welche mutmaßlich vom türkischen Militär ausgingen. Doch nicht nur die Türkei, auch die kurdische Regionalregierung unter der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK), hat sich dem Kampf gegen »den PKK-Terrorismus« verschrieben und unterdrückt die Pressefreiheit. Insbesondere kritische Berichte über den Umgang der PDK mit den türkischen Kriegsverbrechen, Korruption oder Vetternwirtschaft sind der PDK ein Dorn im Auge. Regelmäßig werden kritische Journalist*innen inhaftiert und in fadenscheinigen Prozessen zu hohen Haftstrafen verurteilt.
Murad Mîrza Ibrahim
Der jesidische Journalist starb infolge eines türkischen Drohnenangriffs am 8. Juli 2024 in der Region Şingal im Nordwestirak. Der 27-jährige arbeitete für das kurdische Medienunternehmen Çira TV. Seine Kollegin Medya Kemal Hassan, eine 21-jährige TV-Journalistin, wurde schwer verletzt. Die beiden waren auf dem Rückweg von der Berichterstattung über den 10. Jahrestag der Eroberung des Dorfes Tal Qasab in Şingal durch den Islamischen Staat, als die Drohne das Fahrzeug bombardierte. Ibrahim starb drei Tage später an seinen schweren Verletzungen.
Quelle: Reporter ohne Grenzen
Gulîstan Tara und Hêro Bahadîn
Am 23. August 2024 befanden sich die beiden Journalist*innen in einem Fahrzeug im Bezirk Seyîdsadiq (Nordirak), als sie von einer türkischen Drohne bombardiert wurden. Die beiden starben noch vor Ort, sechs weitere Menschen wurden verletzt. »Ein Akt, der als Staatsterrorismus bezeichnet werden kann«, so Kamal Raouf, Chefredakteur der regionalen unabhängigen Medienagentur Sharpress. Beide Journalistinnen hatten häufig über türkische Kriegsverbrechen in der Region berichtet.
Hêro Bahadîn war 27 Jahre alt und arbeitete als Redakteurin für die Produktionsfirma Chatr. Im Oktober 2024 hätte sie ihr Masterstudium an der Universität Dortmund begonnen. Ihre Kollegin Gulîstan Tara (siehe auch unser Covermotiv) war 40 Jahre alt und als politische Beraterin bei Chatr tätig. Seit 2000 arbeitete sie als Journalistin für die freie kurdische Presse, unter anderem für den Frauensender Jin TV.
Quellen: Reporter ohne Grenzen, ANF Deutsch
Guhdar Zebari
Nach einer dreijährigen, willkürlichen Inhaftierung wurde der Journalist Guhdar Zebari am 17. Februar 2024 freigelassen. Er war im Oktober 2020 zusammen mit vier weiteren Journalist*innen und Aktivist*innen festgenommen und in einem politisch motivierten Prozess zu sechs Jahren Haft verurteilt worden. Die fünf waren im Januar 2019 nach einem Protest in Şîladizê gegen die tödlichen Luftangriffe der türkischen Armee von kurdischen Sicherheitskräften in Nordirak festgenommen worden. Sherwan Sherwani, Ayaz Karam, Shivan Saeed Omar und Hariwan Issa sind nach wie vor inhaftiert. Laut Zebari befinden sich seine Kolleg*innen aufgrund der schweren Haftbedingungen in einem schlechten Zustand.
Quellen: Amnesty International, ANF Deutsch
Qehreman Şukrî
Der Fotojournalist sitzt in der irakischen Region Kurdistan eine siebenjährige Haftstrafe ab. In seiner Arbeit äußerte er sich immer wieder kritisch über den Umgang der kurdischen Behörden mit den türkischen Luftangriffen in der Region. Şukrî wurde im Januar 2021 von den Sicherheitskräften der irakischen Region Kurdistan festgenommen. Im Juni wurde er in einem Geheimprozess ohne rechtlichen Beistand zu sieben Jahren Haft verurteilt. Das Urteil wurde im Oktober 2023 von offizieller Seite bestätigt.
Quelle: Amnesty International
Silêman Ehmed
Im Oktober 2023 wurde der Journalist von Sicherheitskräften der kurdischen Behörde im irakischen Kurdistan verschleppt. Über 200 Tage war weder sein Zustand noch sein Aufenthaltsort bekannt. Auch rechtlicher Beistand wurde ihm verwehrt. Im Juli 2024 wurde er zu drei Jahren Haft verurteilt, aufgrund der angeblichen »Destabilisierung der Sicherheit und Stabilität der Kurdistan-Region des Irak«. Als Journalist arbeitete er für die Nachrichtenagentur RojNews. Sein Anwalt kritisierte den Prozess scharf, da die Anklage nicht nach dem Pressegesetz erfolgte.
Quellen: ANF Deutsch, Amnesty International
Erschwerte Berichterstattung
Die türkischen Luftangriffe haben nicht nur verheerende Auswirkungen für die Bevölkerung in den kurdischen Gebieten. Sie erschweren auch die unabhängige Berichterstattung in Nordsyrien und Nordirak. Die türkische Kriegsführung bedient sich, wie das russische und syrische Regime, der sogenannten »Douple Tap Tactic«. Nachdem ein Ziel bombardiert wurde und Rettungskräfte und Helfer*innen herbeigeeilt sind, wird es nochmals angegriffen. Das erschwert nicht nur die humanitäre Hilfe, sondern auch die journalistische Arbeit: Medienteams, die über Luftangriffe vor Ort berichten wollen, bringen sich zwangsläufig in Lebensgefahr oder müssen den Tatorten fernbleiben.