Portrait von Norma Schneider, Autorin des Buches »Punk statt Putin«
Norma Schneider. Von ihr erschien zuletzt »Punk statt Putin« | Foto: James Reed

»Sieben Jahre Straf­lager sind normal«

Interview mit Norma Schneider

In ihrem Buch »Punk statt Putin« beschäftigt sich die Journalistin Norma Schneider mit oppositionellen Stimmen und künstlerischem Protest in der Russischen Föderation. Die iz3w sprach mit ihr über Gegenkultur in Zeiten des Krieges.

Das Interview führte Jana Senf

29.04.2024
Veröffentlicht im iz3w-Heft 402

iz3w: Wie kamst du dazu, ein Buch über Gegenkultur in Russland zu schreiben?

Norma Schneider: Gegenkultur, Protest und Punk haben mich seit meiner Jugend interessiert. Im Zusammenhang mit Russland kam das Thema für mich vor über zehn Jahren durch das Punk-Kollektiv Pussy Riot auf. Damals haben mich die Medienberichte ziemlich schockiert, weil ich die Aktionen von Pussy Riot zwar provokativ, aber gar nicht so krass fand – dennoch wurden sie zu jahrelanger Haft in Straflagern verurteilt. Ich wollte verstehen, was da in Russland passiert. Was bedeutet es, in so einem Land Gegenkultur zu betreiben? Bald habe ich gesehen, dass es nicht wirklich viel zu diesem Thema gibt. Zwar wurde in den Medien viel über Pussy Riot berichtet, aber darüber hinaus war wenig zu finden.

 

Du wolltest dabei nicht nur über die Repression schreiben, sondern auch über die Kunst. Warum ist Gegenkultur überhaupt wichtig?

Zuerst einmal glaube ich, dass in Deutschland meist nur über Gegenkultur in Russland berichtet wird, wenn es krasse Repressionen gibt. Mittlerweile liegt die Latte dafür, was als krass gilt, sehr weit oben. Es kommt kaum noch eine Meldung, wenn jemand zu sieben Jahren Straflager verurteilt wird, weil ständig so viel Schlimmes passiert.

»Heute sind die meisten Akteur­*innen der russischen Gegen­kultur im Exil«

Aber mich interessiert, was Menschen dazu bewegt, sich in diese Gefahr zu begeben. Sehen sie nicht ein, sich zurückzunehmen? Wollen sie durch ihre Kunst etwas verändern? Mein Verständnis von Gegenkultur war lange, dass Provokation dazugehört. Dass man aufrüttelt und Menschen zum Nachdenken bringt. Ich habe aber auch andere Aspekte kennengelernt. In repressiven Kontexten ist es wichtig, Räume zu schaffen, die vielleicht von außen gar nicht sichtbar sind, aber in denen man sich frei ausdrücken kann. Je autoritärer das Umfeld ist, umso zentraler sind diese Räume. Das ist in Russland ein wichtiger Teil der Gegenkultur. Aber diese Räume werden immer kleiner. Mittlerweile werden Bagatellen mit hohen Strafen belegt. Als Russland die militärische Mobilmachung verkündete, gab es eine kleine Lesung auf einem öffentlichen Platz von mehreren Dichter*innen gegen die Mobilisierung. Drei Dichter wurden verhaftet! Sie wurden gefoltert und zu vier bis sieben Jahren Straflager verurteilt. Unter solchen Umständen bedeutet Gegenkultur etwas anderes, als wenn ich in Deutschland gemütlich zum Punk-Konzert gehe.


Steckt in der russischen Gegenkultur aktivistisches Potenzial? Ist das überhaupt noch möglich?

Die Monate nach dem 24. Februar 2022 waren von einer starken Ohnmacht geprägt. Es gab zwar durchaus künstlerischen Protest, aber auch eine Sprachlosigkeit über den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und ein Fragen danach, was man eigentlich noch tun kann. Auch die Reflexion der eigenen Schuld spielte eine Rolle. Gleichzeitig mussten sich viele Akteur*innen mit praktischen Fragen der eigenen Sicherheit und Flucht beschäftigen. Heute sind die meisten Akteur*innen aus der Gegenkultur nicht mehr in Russland, sondern im Exil. Mein Eindruck ist aber, dass die Bestrebung, etwas zu verändern, fortlebt. Man ist sich natürlich nie über den richtigen Weg einig – auch vor dem 24. Februar war man das nicht. Ich habe mit einer feministischen Aktivist*in gesprochen, die mir sagte: »Es gibt diese Selbstdarsteller wie den Aktionskünstler Piotr Pawlenski, der regierungskritische Performances macht. Sie sind medienwirksam und erregen vor allem im ‚Westen‘ viel Aufmerksamkeit«. Die Aktivistin meinte aber: »Wem bringt das was? Man macht diese Aktion, um verhaftet zu werden und das war es dann.« Für sie ist Gegenkultur lokal situiert in Szenen und Initiativen, wo Leute Strukturen aufbauen. Sie postulieren nicht: »Wir sind gegen Putin, sehr politisch und eigentlich auch queer«. Sie gehen subtiler vor, um sich Räume zu nehmen und Leute anzusprechen. Demgegenüber gibt es andere, die sagen: »Wenn wir nicht klar Position beziehen und Nein sagen, machen wir uns dann nicht gemein?« Es ist kompliziert und wie überall in der progressiven Szene ist man sich da nicht einig.

Gegenkultur weicht ab von dem, was sich der russische Staat unter Kultur vorstellt. Die gegenkulturellen Künstler*innen setzen der politischen Realität etwas entgegen. Sie wissen, dass es nicht demnächst zum Systemsturz kommt. Die Leute im Exil können dagegen offen sprechen und auf Kriegsverbrechen hinweisen, ohne dass sie im Straflager landen. Auf Benefizkonzerten wurde zum Beispiel viel Geld für ukrainische Geflüchtete gesammelt.


Was ist die ukrainische Perspektive auf russische Gegenkultur?

Ich glaube, das ist sehr unterschiedlich. Nicht wenige wollen gar nichts mehr mit Russischem zu tun haben. Gleichzeitig gibt es Leute, die sich freuen, dass es Widerstand gibt. Ich kenne eine Person, die schon immer russische subkulturelle Musik gehört hat und sagt: »Damit höre ich nicht auf.« Aber die Normalität, dass solche Bands in der Ukraine auftreten, ist erst einmal Vergangenheit. Selbst wenn der Krieg in absehbarer Zeit gut für die Ukraine enden würde, wird es eine lange Zeit der Heilung brauchen.

 

Wie ist jetzt, ein Jahr nach dem Erscheinen des Buches, die Lage der Gegenkultur in Russland?

Man denkt immer, es geht nicht mehr schlimmer, aber das stimmt leider nicht. Es ist wirklich hässlich. Am schlimmsten hat es die queere Community getroffen. Sie ist mittlerweile das Feindbild Nummer eins in Russland (iz3w 401). Die sogenannte internationale LGBTIQ-Bewegung wurde als extremistisch eingestuft. Eine Fotografin wurde zu zwanzig Tagen Haft wegen LGBTIQ-Extremismus verurteilt, weil sie im Insta-Profil eine Regenbogenfahne hatte. Mit »Extremismus« werden in Russland hohe Strafen begründet. Das betreffende Gesetz ist schwammig formuliert und – wenn man jemanden wegsperren will – dann geht es mit diesem Gesetz. Es gab auch schon Razzien in queer geprägten Clubs in Moskau und Sankt Petersburg. Die letzten noch aktiven NGOs stellen ihre Arbeit ein. Eine lebendige queere Kultur kann es so nicht geben.

Zudem wurde der Bekenntniszwang in der Kultur stärker: Alle öffentlichen Personen sollen ihre Loyalität zum Regime bekunden. Da wird schon Unpolitisches zur Gegenkultur und selbst minimal normabweichendes Verhalten ist heikel. Willkürliche Repression ist dabei eine bewusste Taktik. Dadurch kann niemand einschätzen, welche Konsequenz eine Handlung haben wird. Man kann eigentlich gar nichts mehr tun. Die Angst führt in die Selbstzensur.


Wie ist hier der Gefängnistod des Oppositionspolitikers Alexei Nawalny einzuordnen?

Nawalny war innerhalb der Gegenkultur in Russland eine umstrittene Person, viele waren mit seinen Positionen nicht einverstanden. Gleichzeitig waren die Protestaktionen, zu denen er aufrief, oft die einzige Möglichkeit, in einer größeren Gruppe zu zeigen, dass man gegen Putin ist. Deswegen galt er vielen als Symbol für eine Alternative zum Putin-Regime, selbst wenn man seine Positionen nicht teilte. So hat er es geschafft, die Putin-Gegner*innen in gewisser Weise zu einen. Ihn zu töten – ob er nun ermordet wurde oder an den schlechten Haftbedingungen starb, er wurde durch das Regime getötet – ist ein Zeichen: Es gibt in diesem Russland keinen Platz für Widerspruch. Wir dulden keine Opposition mehr, egal wie machtlos sie eigentlich ist. Ich denke, Nawalnys Tod sollte vor allem Angst machen und Hoffnung nehmen. Aber ich glaube, dass er bei einigen das Gegenteil bewirkt hat. Sie sind nun umso entschlossener, sich gegen das Regime zu richten. Es sind jedoch sehr wenige.

 

Warum gibt es so viel Unterstützung für Putin?

»Putin verspricht Stabilität.«

Die Menschen in Russland haben gelernt, dass man Ärger bekommt, wenn man sich mit Politik beschäftigt. Das Problem ist die große Passivität in der Bevölkerung. Ich sehe nicht, dass von dort eine Veränderung ausgeht. Putin hatte lange Zeit, um das weiter einzuschleifen. Es gab in Russland nie eine positive demokratische Erfahrung. In den 1990er-Jahren, als es die meisten politischen Freiheiten gab, waren die Lebensbedingungen miserabel. Es gab zwar freie Wahlen und mehr Redefreiheit, aber es gab auch viel Armut, Unsicherheit, Kriminalität und Gewalt, sodass diese Zeit ein Schreckgespenst darstellt. Putin verspricht Stabilität. Es ist unrealistisch zu erwarten, dass die Mehrheit der Menschen sich selbst als politisches Subjekt versteht.

 

Was wäre dir wichtig, was die Leser*innen aus deinem Buch mitnehmen?

Was vor zehn Jahren erschütternd war, wie der Fall Pussy Riot, ist heute normal. Seit Beginn des Krieges hat das Regime alle roten Linien überschritten und der internationale Aufschrei interessiert die russische Regierung nicht mehr. Diplomatisch ist da nichts zu machen. Ich finde es dagegen wichtig, dass wir die Repression nicht als normal hinnehmen. Die Gewöhnung an den Krieg ist schlimm. Die Repressionen und die Lage von Queers in Russland verschlimmern sich. Und wenn so viel Schreckliches passiert, müssen wir überlegen: Wie können wir die Menschen trotzdem unterstützen? Wir sollten uns nicht daran gewöhnen, dass Leute, weil sie ein Gedicht vorgetragen haben, für sieben Jahre ins Straflager kommen.

Das Interview führte Jana Senf (iz3w).

 

Norma Schneider ist Journalistin. Von ihr erschien zuletzt »Punk statt Putin«, Ventil Verlag, Berlin 2023.

Dieser Artikel ist erschienen im iz3w-Heft Nr. 402 Heft bestellen
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