Buchrezension, Cover von »Im Morgen wächst ein Birnbaum« mit Kindern die vor einem Haus stehen

Männ­lichkeit und Migra­tion

Rezensiert von Annika Jaeckle

17.08.2023
Veröffentlicht im iz3w-Heft 398

Der autobiografische Debütroman Im Morgen wächst ein Birnbaum von Fikri Anıl Altıntaş gewährt Einblicke in die Familiengeschichte des Autors und die Suche nach seiner Identität. Altıntaş wuchs als Sohn von aus der Türkei eingewanderten Eltern in Hessen auf – zwischen Sozialbauten, unangenehmen Besuchen beim Amt, aber auch familiären Festen in Schrebergärten und den langen Sommerferien in der Türkei am Meer. Seine Jugend ist geprägt von einem zerrissenen Zugehörigkeitsgefühl zu zwei unterschiedlichen Ländern sowie der Erfahrung von Rassismus, etwa bei der Wohnungssuche.

Der Autor nimmt die Ungerechtigkeiten wahr, die den Eltern in ihrer Migrationsgeschichte in Deutschland widerfahren sind. Er stellt zugleich fest, wie selten diese in der Generation seiner Eltern offen thematisiert werden. Dieses Schweigen möchte Altıntaş brechen und sich mit den intergenerationalen Traumata auseinandersetzen – auch, um seinen eigenen Platz finden. Er sucht Stimmen, die »Zwischentöne von Personen wie mir anerkennen und keine Decke darüberlegen mit den Erwartungen von weißen Menschen, die nur einen kleinen Teil meiner Realität greifen können«.

Allgegenwärtig ist die Beziehung zu seinem Vater, in der sich Altıntaş mit Fragen der Identität und Männlichkeit auseinandersetzen muss. Wie Rassismuserfahrung und Männlichkeit im Leben des Vaters zusammenhängen, wird deutlich, als dieser bei der Arbeit als ‚Kümmeltürke‘ beleidigt wird und niemand eingreift, der Vater danach jedoch keine Schwäche zeigen möchte und deshalb nicht weint. Die starren Männlichkeitsvorstellungen des Vaters bieten dem Sohn einerseits Orientierung, andererseits versucht er sich von diesen Vorstellungen zu befreien und eigene zu entwickeln. Trotzdem ist es ihm wichtig, die enge Beziehung nicht nur zu seinem Vater, sondern auch zu seiner Mutter aufrechtzuerhalten und sie stolz zu machen. Diese Balance zwischen Verletzlichkeit und Stärke in der Beziehung zu seinen Eltern zu finden, ist nicht immer leicht.

Angesichts der Unbeständigkeiten stellt der Birnbaum im Vorgarten des Ferienhauses in der Türkei Beständigkeit und Sicherheit dar. Der Baum taucht immer wieder als Konstante auf und dient auf eine Art als Verbindung zu den Eltern, der Familie und der Türkei. Fikri Altıntaş‘  Buch ebnet den Weg zu einer Dekonstruktion von Männlichkeit. Eine teils poetische und feinfühlige Auseinandersetzung über Sehnsüchte, Verletzungen, Traumata, Einsamkeit und die Liebe.

Fikri Anıl Altıntaş: Im Morgen wächst ein Birnbaum. btb Verlag, München 2023. 176 Seiten, 22 Euro.

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