»Der Nahostkonflikt ist eine Projektionsfläche«
Interview mit Saba-Nur Cheema über Antisemitismus und Rassismus
Wer menschenfeindlichen Ideologien ablehnt, muss sich sowohl entschieden gegen Antisemitismus als auch gegen Rassismus positionieren. Soweit die Theorie. In der Praxis gelingt das in der Linken angesichts des aktuellen Kriegs zwischen der Hamas und Israel schlecht. Woran das liegt, darüber sprachen wir mit der Publizistin und Politikwissenschaftlerin Saba-Nur Cheema, die zu Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus forscht.
iz3w: Was hat der Angriff der Hamas am 7. Oktober mit deinem Alltag gemacht?
Saba-Nur Cheema: Seit dem 7. Oktober hat sich sowohl privat als auch beruflich viel für mich verändert. Die Familie meines Mannes lebt in Israel, seine Eltern leben in einem Kibbuz nahe der Grenze zu Gaza und sein jüngerer Bruder wurde als Reservist in die Armee eingezogen. Die aktuellen Ereignisse beeinflussen uns ständig, sowohl persönlich als auch beruflich. Mein Mann ist gestern nach Israel gereist. In meinem Beruf beschäftige ich mich mit Themen wie Antisemitismus, Rassismus und Muslimfeindlichkeit, insbesondere im Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen Israel und Palästina, beziehungsweise der Hamas. Das sorgt für viel Redebedarf und viele Anfragen.
Das von Sina Arnold, Meron Mendel und dir herausgegebene Buch »Frenemies« diskutiert die politischen Konflikte zwischen antirassistischen und antiantisemitischen Theorieansätzen. Wollen beide Strömungen nicht im Grunde das Gleiche?
Wir wollten mit diesem Buch nicht versuchen, die Lager zu vereinen und sagen, dass wir alle dasselbe wollen. Wir wollten vielmehr die tatsächlichen Konfliktlinien identifizieren und genauer betrachten. Bereits das hat sich als schwieriges Unterfangen erwiesen: Einige Autor*innen wollten von Anfang an nicht mitmachen und betonten, dass sie nicht mit bestimmten Personen in einem Buch erscheinen möchten. Das hat mich damals teilweise echt enttäuscht und verärgert. Seit dem 7. Oktober nehme ich diese politische Kluft als größer denn je wahr.
Leider bietet das postkoloniale Begriffsrepertoire wenig, um Antisemitismus angemessen zu beschreiben. Sie sehen die Unterschiede zwischen Antisemitismus und Rassismus nicht. Daher ist etwa die Vorstellung verbreitet, dass Juden als Weiße privilegiert sind und daher nicht wirklich von Rassismus betroffen sind. Andererseits gibt es, wenn man sich mit Antisemitismus mithilfe kritischer Theorie auseinandersetzt, oft ein mangelndes Verständnis für aktuelle Formen des Rassismus. Der Begriff des antimuslimischen Rassismus wird oft abgelehnt, mit der Begründung, es handle sich um einen Konflikt bezogen auf den Islam und nicht um Rassismus. Aber die Konfliktlinien sind natürlich viel älter.
Was bedeutet das für die politischen Reaktionen auf das Massaker der Hamas vom 7. Oktober und auf den darauffolgenden Krieg?
Der Nahostkonflikt war schon immer eine Projektionsfläche, bei der man sich jeweils auf der moralisch richtigen Seite wähnt. Man überträgt ein dichotomes Weltbild, in dem es entweder Kolonisatoren oder Unterdrückte, letztlich Gut oder Böse gibt, auf diesen Kontext. Viele Menschen haben falsche oder unzureichende Kenntnisse über die Geschichte der Region, einschließlich des Glaubens, dass vor 1948 keine Jüdinnen und Juden dort gelebt hätten. Aus dieser Sicht sieht man Israel als Kolonialstaat und die indigene Bevölkerung sind die Palästinenser*innen. Daraus wird dann geschlossen, dass Israel als neokolonialer Staat abgeschafft und bekämpft werden muss. In großen Teilen des muslimischen und migrantischen Milieus und der Linken gab es daher keine bis wenig Empathie für die israelischen Opfer des Massakers vom 7. Oktober. Viele schwiegen zu dem Massaker am 7. Oktober und fanden dann erst für Israels militärische Antwort dramatische Begriffe wie ‚Genozid‘ oder ‚Vergleiche mit dem Warschauer Ghetto‘. Und dann gibt es leider nicht wenige in der Linken, die die Hamas als Widerstandsorganisation oder das Massaker vom 7. Oktober als Befreiungsaktion bewerten.
»Viele haben unzureichende Kenntnisse über die Geschichte der Region«
Gleichzeitig fehlte es gerade anfänglich auch in der deutschen Politik an Empathie gegenüber der Zivilbevölkerung in Gaza, während man volle Unterstützung für das israelische Militärvorgehen äußerte. Die politische Unfähigkeit und Unbeholfenheit, klare Aussagen zu zivilen Opfern und dem Leid in Gaza zu treffen, schafft eine gesellschaftliche Kluft. Dass es in einer Migrationsgesellschaft unterschiedliche Perspektiven gibt, wird ausgeblendet. Es wird nicht ernstgenommen, dass Menschen etwa Angehörige vor Ort haben und auch trauern wollen.
Die großen Palästina-Solidaritätsdemonstrationen stehen in der Kritik, weil sie sich nicht öffentlich von der Hamas distanzieren. Bundesweit agierende Organisationen wie »Palästina spricht« tun sich dabei schwer. Warum?
Am Tag des Hamas-Angriffs am 7. Oktober erschien auf dem Facebook-Account von „Palästina spricht“ ein Beitrag mit der Aufschrift "Gaza just broke out of prison." Die Organisation betrachtet die Hamas nicht als terroristische Gruppe, sondern als legitime Widerstandsgruppe für die Palästinenser*innen – da müssen wir über Verurteilung gar nicht erst sprechen. Ebenso wenig müssen wir das im Falle Samidouns tun. Ein Problem scheint mir zu sein, dass es sich deutschlandweit um wenige Organisationen handelt, die aber in ihrem Auftreten sehr laut sind.
Aber die palästinensische Community in Deutschland muss doch pluraler aufgestellt sein? Dennoch vermisst man eine klare Verurteilung des Hamas-Terrors oft.
Erst einmal muss man sagen: In Deutschland leben gerade einmal 200.000 Palästinenser*innen. Da kann man schon fragen: Wie laut und wie wirkmächtig können die überhaupt etwas verurteilen? Gleichzeitig kann man fragen: Warum fällt es Palästinenser*innen hierzulande so schwer, ein solch brutales Massaker zu verurteilen? Dadurch, dass palästinensische Stimmen marginal bleiben, verstärkt sich das Misstrauen ihnen gegenüber. Zugleich äußern viele Palästinenser*innen Angst, sich überhaupt öffentlich zu äußern. Bereits als es die ersten zivilen Opfer in Gaza zu beklagen gab, wurden Mahnwachen von trauernden Angehörigen in Berlin nicht zugelassen. Mehrere Bundesländer haben Schulen empfohlen, palästinensische Symbole zu verbieten, wenn sie den Schulfrieden gefährden. Das sollte bei Hamas-Propaganda selbstverständlich sein, aber betrifft auch andere palästinensische Symbole. Und das schafft eine Atmosphäre, in der sich die Leute unter Generalverdacht fühlen. Distanzierungen werden dann als sinnlos empfunden.
Mit der Rede von der »Dekolonialisierung« ist die Vorstellung von Israel als einem Kolonialstaat verbunden. Was würdest du dem entgegnen?
Wer die Geschichte Israels kennt, weiß dass der Vorwurf des Kolonialismus nicht zutreffend ist: Juden haben in dieser Region seit der Bibelzeit gelebt. Zudem ignoriert das Bild von Israel als ‚weißem Kolonialstaat‘ den historischen Kontext völlig. Es ignoriert einerseits den rassistischen Antisemitismus, der in der Shoa gipfelte und dass Jüdinnen und Juden nun mal lange Zeit für die Mehrheitsbevölkerung nicht als ‚weiß‘ galten. Gleichzeitig wird völlig ausgeblendet, dass etwa die Hälfte der jüdischen Bevölkerung in Israel aus arabischen Ländern wie Marokko, dem Irak, Jordanien und dem Jemen kommt.
Es ist noch perfider, dass dieser Vorwurf des Kolonialismus nach dem 7.Oktober dazu genutzt wird, um die Gewalt gegen Zivilisten zu rechtfertigen, als sei die Terrororganisation Hamas eine antikoloniale Befreiungsbewegung. Wie etwa die somalisch-amerikanische Autorin Najma Sharif, die am 7. Oktober twitterte: „Was dachtet ihr, bedeutet Dekolonisierung? Vibes? Aufsätze? Essays? Loser.“ Wenn solch ein Tweet hier im deutschsprachigen Raum derart verbreitet wird, löst das bei mir Gänsehaut aus.
Ebenso verhält es sich mit den anderen Begriffen wie ‚Apartheid‘ oder ‚Genozid‘, die als Kampfbegriffe verwendet werden, um Massen gerade in den sozialen Medien zu mobilisieren. Viele übernehmen unhinterfragt diese Begriffe, ohne sich mit der komplizierten Realität auseinanderzusetzen. Die Befürworter*innen des Apartheidsbegriffs unterscheiden überhaupt nicht zwischen dem Kernland Israels und den besetzten Gebieten und dem Westjordanland. Ginge es allein um letztere, stünde der Begriff für mich noch einmal unter anderem Vorzeichen. Aber in diesem Narrativ sind alle Israelis Siedler*innen, die eigentlich gar nicht in der Region sein dürften. Die militärische Intervention wiederum könnte man auch beschreiben und kritisieren, ohne dass man das Wort Genozid verwenden muss.
Auf staatlicher Ebene wird das Thema Antisemitismus und der Nahostkonflikt gerade auch verwendet, um Einschränkungen des Asylrechts zu rechtfertigen und schnellere Abschiebungen zu fordern. Welche Handlungsmöglichkeiten siehst du da?
Die Instrumentalisierung des Nahostkonflikts für eine muslimfeindliche und migrationsfeindliche Agenda ist offensichtlich und besorgniserregend. Für Linke gibt es viel zu tun, da die Bewegung im Kontext des Nahostkonflikts zersplittert ist. Eine klare Positionierung ist erforderlich, die sowohl antisemitismuskritisch als auch rassismuskritisch ist. Antisemitismuskritisch zu sein bedeutet, den Antisemitismus zu verurteilen und jüdisches Leben vor Bedrohungen zu schützen. Rassismuskritisch zu sein erfordert, die antimuslimische Stimmung zu erkennen, die mit islam- und migrationsfeindlichen Politiken einhergeht. Es ist wichtig, diese Entwicklungen gleichzeitig und deutlich zu verurteilen, um zu zeigen, dass dies kein Widerspruch ist. Das vorzuleben erwarte ich von der Linken.