Auf dem Strand läuft ein Mann mit Wasserkanistern, im Hintergrund Holzboote, die Geflüchtete über den Seeweg aus dem Senegal wegbringen
on hier aus brechen gelegentlich auch Geflüchtete auf, über denn Atlantik Richtung Kanaran: Fischerhafen in Ngor, Dakar, Senegal | Foto bildertexten

Komplexe Realitäten

Klimawandel und Migration im Sahel

Der Sahel ist ökologisch fragil, und mit der Erosion fruchtbarer Böden wird die Bevölkerung immer verwundbarer. Der eskalierende Klimawandel verschärft die Lage ebenso wie die politische Instabilität. Die befürchtete millionenfache Migration nach Europa ist dennoch ein unbegründetes Bedrohungsszenario, denn Klimaflucht ist keine kollektive Antwort.

von Lars Springfeld

24.11.2023
Teil des Dossiers Klimakrise und Migration

In der europäischen Öffentlichkeit sind die Sahel-Staaten vor allem als Konfliktregion bekannt, als Herkunfts- und Transitländer für Migrant*innen auf dem Weg nach Europa sowie als eine der ärmsten Regionen der Welt. Weniger beachtet wird hingegen, dass der Sahel* weltweit mit am stärksten von der Klimakrise betroffen ist. Und wenn doch, so wird der Klimawandel oft als direkte Ursache für eine befürchtete millionenfache Klimaflucht ausgemacht. Dieses Narrativ entbehrt faktisch einer klaren Grundlage, wie ein Blick auf die Strategien der Sahelbevölkerung im Umgang mit Krisen zeigt.

Die Dürren der 1980er-Jahre: mit hoher Wahr­schein­lich­keit eine Folge des Klima­wandels

Schon jetzt wird für den Sahel ein 1,5 Mal höherer Temperaturanstieg als im weltweiten Durchschnitt gemessen – und das bei bereits hohen Durchschnittstemperaturen von teilweise über 30 Grad. In den 40 Jahren zwischen 1970 und 2010 sind die Temperaturen um 0,6 bis 0,8 Grad gestiegen – einer der höchsten Werte weltweit. Klimamodelle sagen selbst im optimistischsten Szenario einen durchschnittlichen Temperaturanstieg von zwei Grad bis 2030 und 2,4 Grad bis 2050 vorher. Andere Szenarien rechnen mit einem Temperaturanstieg um 3,6 Grad bis 2080 oder gar bis zu sechs Grad bis 2100*.

Frühe Dürren und jüngere Fluten

Bereits 1913/14 kam es unter anderem im heutigen Mali zu einer dramatischen Dürre, die auch von der französischen Kolonialverwaltung registriert wurde. In den 1930er-Jahren warnten Kolonialpolitiker und ihre Verbündeten in den Wissenschaften vor einer »Austrocknung der Sahelzone«.* In den 1970er- und 1980er-Jahren erlebte die Region mit einem dreißigprozentigen Rückgang des Regens die dramatischsten Dürren des 20. Jahrhunderts. Wie schon in der Kolonialzeit wurde die einheimische Bevölkerung als unfähig zur Erhaltung ihrer Umwelt angesehen, selbstverschuldetes Abholzen der Savanne war das häufigste Erklärungsangebot. Heute zeigen Studien, dass die Erwärmung der Meere und menschenverursachte Emissionen eine zentrale Rolle in der Trockenheit gespielt haben – schon die damaligen Dürrekatastrophen, denen Hunderttausende Menschen und Millionen von Rindern zum Opfer fielen, waren also mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Folge des Klimawandels.

Ein Dorf und seine Bewohner versinken in den Überschwemmungen im Südsudan. Das Foto ist von der UNMISS.
Überschwemmungen in Bor, Südsudan | Foto: Nektarios Markogiannis

Auch wenn sich die Regenfälle seit den 1980er-Jahren etwas erholt haben, sind sie nicht auf das Niveau vor 1960 zurückgekehrt. In den Jahren 2005, 2008, 2010 und 2012 kam es nicht zuletzt aufgrund von Dürren zu Lebensmittelkrisen, in deren Folge 2015 über 20 Millionen Menschen von Ernährungsunsicherheit betroffen und fast sechs Millionen Kinder mangelernährt waren. Was die Niederschläge betrifft, sind die Vorhersagen wenig eindeutig. Bereits heute regnet es unregelmäßig, und wenn, dann oft so heftig, dass es zu Überschwemmungen kommt. 2020 kam es auch in der nigrischen Hauptstadt Niamey zu großen Überschwemmungen. 2017 berichtete ein Team vom britischen National Centre for Earth Observation in »Nature«*, dass seit dem Jahr 1982 die Zahl extrem heftiger Regengüsse im Westsahel stark zugenommen habe. Es könnte sich dabei um einen langfristigen Trend handeln und schließt Dürreperioden nicht aus. Wie sich Regenmenge und Art der Niederschläge in den kommenden Jahrzehnten verändern, ist noch ungewiss.*

Von Ernten abhängig

Für ein vollständiges Bild muss neben den Prognosen der Klimawissenschaften die Verwundbarkeit der Bevölkerung in den Blick genommen werden. Diese ist im Sahel besonders hoch, denn ein Großteil der Menschen lebt direkt von der Landwirtschaft; in Niger sind es Dreiviertel der Bevölkerung. Im Durchschnitt trägt die Landwirtschaft 40 Prozent zum Bruttosozialprodukt der Sahel-Staaten bei, die Viehzucht 10 bis 15 Prozent. Steigende Temperaturen wirken sich direkt auf die Landwirtschaft aus. Nach einer Studie werden, wenn die Temperatur um mehr als zwei Grad steigt, die Hirse-Erträge um bis zu einem Viertel zurückgehen, in Mali soll es zu Verlusten von bis zu 30 Prozent kommen.*

Migration als Strategie zur Diversifizierung von Daseinsvorsorge ist keineswegs neu

Zudem sind die ohnehin nährstoffarmen Böden durch Abholzung, Überweidung und ständige Bearbeitung (ohne Brache) bedroht, während weniger Regen und erhöhte Temperatur zur Verwüstung und Sandablagerungen führen. Eine auf Dünger und Pestizide getrimmte Landwirtschaftsberatung ist hier ein Brandbeschleuniger. *Gerade in den trockenen Jahren sind die Menschen gezwungen, Holz zu schlagen, um zusätzliches Einkommen zu verdienen – ein Teufelskreis, der auch dadurch verstärkt wird, dass bei Lebensmittelknappheit die Preise steigen. In jüngster Zeit kam es zu einem allgemeinen Anstieg der Preise, der die Bevölkerung hart trifft. Gründe sind u.a. der Krieg in der Ukraine sowie die zunehmende Unsicherheit und politische Spannungen in der Region. Gibt es zu viel Regen oder gar Überflutungen, wirkt sich das ebenfalls negativ auf die Ernten und die Produktivität der Viehwirtschaft aus.

Reine Klimaflucht gibt es nicht

Im Sahelraum treffen generell labile Ökosysteme sowie der Rückgang fruchtbarer Böden auf eine in hohen Maße verwundbare Bevölkerung – eine Negativspirale, die durch den eskalierenden Klimawandel weiter vorangetrieben wird. Es scheint nachvollziehbar, von dieser düsteren Prognose auf millionenfache Abwanderung aufgrund des Klimawandels zu schließen, wie es in der Debatte um Klimaflucht oft getan wird. Das wird jedoch der Komplexität der Lage nicht gerecht. Einerseits wirkt der Klimawandel mit anderen sozialen und ökonomischen Krisen in der Region zusammen, nicht zuletzt mit der zunehmenden Zahl gewaltsamer Konflikte und der sich verschärfender Sicherheitskrisen. Andererseits gilt es die Handlungsmacht lokaler Akteure in den Blick zu nehmen, die den Klimawandel nicht nur erleiden, sondern eine positiv gestaltende Rolle einnehmen, sich anpassen und vorsorglich handeln. Kurzum: Weder ist Flucht die einzig mögliche Reaktion auf den Klimawandel, noch lässt sich Migration, wenn sie denn stattfindet, auf eine einzige Ursache, den Klimawandel, zurückführen.

Pfade wechseln

Am Beispiel der Region Dosso in Niger hat die Soziologin Sabine Dorlöchter-Sulser gezeigt, wie sich die Lebenssicherungssysteme der Bevölkerung in den letzten 50 Jahren langfristig verändert haben*. Ihr zufolge hat es die Mehrheit der lokalen Akteure selbst in Phasen weitreichender Umbrüche geschafft, ihre Lebenssicherungssysteme neu auszurichten und somit ihren Lebensunterhalt sicherzustellen. Dabei wurde bei jedem Pfadwechsel die Erwerbsgrundlage modifiziert. Insgesamt bewies die Mehrheit eine ausgesprochene Flexibilität und Anpassungsfähigkeit gegenüber den sich wandelnden Kontexten – ob mittels alter Handlungsstrategien wie der (regionalen und transnationalen) Migration oder durch Innovationen wie der Rindermast. Gleichwohl lässt sich weder ein linearer Trend zur Deagrarisierung noch ein Trend für konkrete Erwerbsquellen feststellen, die unabhängig vom Klima funktionieren. Die Studie macht deutlich: Migration als Strategie zur Diversifizierung von Daseinsvorsorge ist keineswegs neu, sondern seit Generationen Teil des sozialen und kulturellen Lebens westafrikanischer Gesellschaften. Wenngleich Migration aktuell auch unter dem äußeren Druck des Klimawandels stattfindet, ist es irreführend, sie als Klimaflucht zu charakterisieren.

Gewaltfördernde Synergien

Ein weiterer Aspekt ist das Zusammenspiel der Folgen des Klimawandels mit gewaltsamen Konflikten. Eine Studie des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI und dem Norwegian Institute of International Affaires von 2021 legt dar, dass die Zerstörung von Lebensgrundlagen dazu führt, dass Konkurrenz um knappe oder ungleich verteilte Ressourcen zunimmt, insbesondere um fruchtbares Acker- oder Weideland. Das Ausmaß solcher Landnutzungskonflikte zeigt eine Zahl aus Nigeria: 2018 kamen durch Konflikte zwischen Ackerbauern und Viehhirten im nigerianischen Middle Belt sechsmal mehr Zivilist*innen zu Tode als durch die Terrorsekte Boko Haram. Auch kann klimabedingte Migration Konflikte hervorrufen oder verschärfen, insbesondere dann, wenn sie zu einer Konkurrenz um knappe Ressourcen in den Aufnahmeregionen beiträgt. Des Weiteren gerät auch durch den Klimawandel die bisher friedliche Koexistenz verschiedener Volksgruppen aus dem Gleichgewicht.

Durch den Klimawandel gerät die friedliche Koexistenz verschiedener Volksgruppen aus dem Gleichgewicht. Letzteres ist z.B. im Nigerbinnendelta im Zentrum Malis der Fall, wo das bisher friedliche Zusammenleben von denen, die Ackerbau betreiben, von Viehhirt*innen und Fischern durch den Klimastress ins Wanken geraten ist. Das Scheitern traditioneller Formen der Konfliktbewältigung öffnet militanten, oft dschihadistischen Gruppierungen Freiräume, innergemeinschaftliche Konflikte anzuheizen und für sich zu instrumentalisieren, indem sie ihre Mitglieder aus bestimmten, marginalisierten Gruppen rekrutieren. Weiter verschärft werden entsprechende Entwicklungen, wenn staatliche Strukturen abwesend sind oder staatliche Politik fehlgeleitet wird. Hier wurden Ackerbauern und -bäuerinnen gegenüber Viehhirten oftmals bevorzugt. So hat politisches Wirken dazu beigetragen, Hirtengemeinschaften zu marginalisieren.

Es wird deutlich: Auch die Gewalteskalation und Unsicherheit, die heute die politische Diskussion über den Sahel bestimmt und hunderttausende Menschen in die Flucht treibt – in aller Regel als Binnenvertriebene – hat mit den Folgen Klimawandel zu tun, was die Debatte um klimabedingte Migration weiter verkompliziert.

Konsequent die Komplexität anerkennen

Die Forderungen, die daraus abgeleitet werden, sollten dieser Komplexität Rechnung tragen. In einem Text zum Thema Klimaflüchtlinge hat Olaf Bernau vier politische Forderungen herausgearbeitet, die im Kontext der hier erläuterten Lage relevant sind*: Erstens sollte der Kampf gegen Fluchtursachen immer als facettenreiche Paketlösung verstanden werden, auch dort, wo der Klimawandel eine wichtige Rolle spielt. Zweitens gilt es, die Anpassung an den Klimawandel ungleich stärker in den Mittelpunkt zu rücken. Denn viele vom Klimawandel Betroffene können (und wollen) nicht ihre Herkunftsregion verlassen, vor allem nicht als Mehrpersonenhaushalt. Stattdessen sollten mit agrarökologischen und klimafreundlichen Methoden wie etwa Aufforstung und ökologischen Bewässerungssystemen die gestressten Böden entlastet werden. Gleiches gilt für Dämme oder Sturmschutz. Drittens sind Migrant*innen zu unterstützen, statt sie durch Hightech-Abschottung zu bekämpfen. Nur so können sie ihren Familien finanziell bei der Anpassung an die klimawandelbedingten Umschwünge helfen. Viertens sollte der Klimawandel in nationalen und internationalen Schutzkonventionen für Geflüchtete als wichtiger Faktor mitaufgenommen werden, vor allem, um die für den Klimawandel hauptsächlich verantwortlichen Industrieländer in die Pflicht zu nehmen.

Lars Springfeld engagiert sich im Netzwerk Afrique-Europe-Interact und hält sich regelmäßig in Westafrika auf.

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