Verteidigung einer Heulsuse
Superheld*innen in japanischen Mangas
Superhelden-Comics sind ein Boys-Club, gezeichnet für Nerds und irgendwie toxisch. Dieses Vorurteil hält sich hartnäckig. Erst in den letzten Jahren werden die Held*innen der großen Studios Marvel und DC diverser, die Industrie ist nicht mehr komplett männerdominiert. Nicht-westliche Comic-Traditionen waren da schneller: In Japan etwa revolutionierten Autorinnen bereits ab den 1960er-Jahren die Manga-Szene und etablierten einen festen Platz für Zeichnerinnen und ihre weiblichen und queeren (Super)Held*innen.
Robin Hood und D’Artagnan waren meine ersten Helden – in den aus Japan stammenden Anime-Fassungen, die in den 1990er-Jahren im Nachmittagsprogramm über deutsche Bildschirme flimmerten. Und dann kam »Sailor Moon« und plötzlich war alles anders: Die auf einem Manga basierende Serie handelt von der 14-jährigen Usagi »Bunny« Tsukino, die eines Tages von der sprechenden Katze Luna erfährt, dass sie die Kriegerin Sailor Moon ist und mit ihren Freundinnen, den Sailor-Kriegerinnen, für Liebe und Gerechtigkeit und gegen das Böse kämpfen muss. Eine Schülerin, noch dazu eine ‚Heulsuse‘, die die Welt rettet. Mein neunjähriges Ich war völlig fasziniert. In meinem Umfeld war die Serie als ‚Mädchenkram‘ und damit als minderwertig verschrien. Und ja, Sailor Moon war ein richtiges ‚Mädchen‘ – und ich liebte alles daran. Sailor Moon war Empowerment. Als ich älter wurde, überwog die feministische Kritik an der Serie: Das unrealistische Körperbild, unterschwelliger Rassismus, die viel zu kurzen Matrosen-Anzüge, in denen die Schülerinnen nach ihrer Verwandlung in Sailor-Kriegerinnen kämpften, die sehr heteronormative Liebesgeschichte zwischen Sailor Moon und Tuxedo Mask, der einzigen ernstzunehmenden männlichen Figur in der Serie. Diese Kritik war und ist berechtigt. In gewisser Weise reproduziert sie aber auch den gesamtgesellschaftlichen Sexismus, der auch dazu führt, dass alles als weiblich Verstandene deutlich mehr Kritik erfährt und Frauen und Queers für die gleiche Anerkennung meist mehr leisten müssen. Eine ähnliche Kritik zu etwa dem in »Superman« vermittelten Körperbild ist mir zum Beispiel nicht bekannt, ähnliches gilt für die Outfit-Wahl von He-Man, der nur mit einer Unterhose bekleidet dem Bösen entgegentritt. Die problematischen Aspekte, die in den meisten Superheld*innen-Comics und -Serien der 1990er-Jahre steckten, schienen nicht der Rede wert zu sein, wenn ihre Helden und Zielgruppen männlich sozialisiert waren.
Freundschaft als Superkraft
Sailor Moon ist nicht perfekt, doch zu ihrer Erscheinungszeit stellte die Serie eine Revolution dar: Erstmals kämpfte ein rein weibliches Superheldinnen-Team gegen das Böse. Eine Frau zu sein, ist in der Serie gar Voraussetzung, um kämpfen zu können. So gibt es in der letzten Staffel die Boy-Band Starlights, die von Bunny und ihren Freundinnen angehimmelt wird. Sie entpuppen sich ebenfalls als Sailor-Kriegerinnen – und werden während ihrer Verwandlung zu Frauen. Zwar ist auch ihr Verbündeter Tuxedo Mask hin und wieder in Kämpfe involviert, er nimmt jedoch eine rein unterstützende Rolle ein, die in westlichen Superhelden-Comics in der Regel weiblich gelesenen Figuren zukam. Sailor Moon hingegen rettet Tuxedo Mask und die Welt. Das tut sie nicht alleine, sondern gemeinsam mit neun weiteren Kriegerinnen, die eine enge Freundschaft verbindet. Freundschaft ist ein zentrales Motiv der Serie. Während die Sailor-Kriegerinnen als klassische Teenager-Mädchen von der großen Liebe träumen, ist die Freundschaft untereinander doch der wichtigste Bezugspunkt und die Quelle ihrer Kraft. Anders als Batman und Superman ist Sailor Moon kein Lone Wolf, sondern arbeitet im Kollektiv und beharrt darauf, beides sein zu können: ein verzweifelter, ängstlicher Teenager und eine Kämpferin.
In Bezug auf Geschlecht und Sexualität war Sailor Moon anscheinend gar zu revolutionär, zumindest für das deutsche Fernsehen. Die deutsche Synchronisation versuchte vehement, queere Elemente aus der Geschichte zu tilgen. Weiblichkeit ist in der Serie ein äußerst diverses Konzept, jede Sailor-Kriegerin ist anders. Zu einem gewissen Grad gilt das auch für Männlichkeit: Männliche Figuren sind häufig androgyn, in der ersten Staffel gibt es unter den Bösewichten ein schwules Paar – einer der beiden erhielt in der deutschen Fassung eine weibliche Synchronstimme. Und auch die Liebesbeziehung zwischen Sailor Uranus und Sailor Neptun sollte offenbar deutschen Kindern nicht zugemutet werden: Sie wurden zu Cousinen – eine Erzählung, die schon als Neunjährige für mich keinen Sinn ergab. Im Laufe der Serie tauchen zudem mehrere Charaktere auf, die ihr Geschlecht wechseln und auch die als heterosexuell erzählten Sailor-Kriegerinnen stellen immer wieder ihre Sexualität ganz offen in Frage.
Digitales Schnupperabo
Drei Monate schnuppern, lesen, schmökern.
Mit diesem selbstverständlichen Umgang mit Queerness schließt Sailor Moon an eine lange Tradition im japanischen Comic, vor allem im sogenannten Shōjo-Manga, an. Bereits das erste längere Shōjo-Manga, das ab 1953 erschien, »Ribon no Kishi«, erzählt eine Geschichte mit Elementen, die als queer bezeichnet werden können: Die Prinzessin Saphir wird aufgrund der List eines Engels mit dem Herz eines Mannes geboren und als Junge großgezogen. Das Shōjo-Genre richtet sich explizit an junge Frauen und wurde lange (natürlich ausschließlich von männlichen Kritikern) als unterste Stufe der Manga-Kultur betrachtet. Das änderte sich dramatisch ab Ende der 1960er-Jahre, als junge Zeichnerinnen das bis dato – trotz seiner Zielgruppe – von männlichen Zeichnern dominierte Genre revolutionierten. Zeichnerinnen wie Moto Hagio, Keiko Takemiya und Riyoko Ikeda, die auch als Gruppe der 24 bezeichnet werden, führten eine neue, anspruchsvolle Ästhetik und neue Themen ein. Abenteuer, Science-Fiction, geschichtliche Themen und von Anfang an auch homosexuelle Liebe wurden zu zentralen Elementen im Shōjo.
Queer im revolutionären Frankreich
In Moto Hagios Manga »Thomas no Shinzō« etwa geht es um eine homosexuelle Liebesbeziehung an einer europäischen Jungenschule. Homoerotische Geschichten von weiblichen Mangaka genossen rasch eine große Popularität. In so großen Ausmaß, dass daraus schließlich ein eigenes Genre entstand. Das außerhalb Japans vermutlich bekannteste Manga aus dem Kreis der 24er-Gruppe greift homoerotische Aspekte auf, ist jedoch queer in einem sehr viel breiteren Sinn. Es handelt sich um das ab 1972 erschiene und von Riyoko Ikeda gezeichnete »Die Rosen von Versailles«. Ab 1979 gab es eine Anime-Adaption, die ab 1994 unter dem Titel »Lady Oscar« auch im deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurde. Die Titelheldin Oscar wächst am Vorabend der Französischen Revolution am Hof von Versailles auf. Als sechste Tochter eines Generals, der sich sehnlichst einen Nachfolger wünscht, wird sie als Mann erzogen und kommandiert schon früh die Königliche Garde. In dieser Funktion wird sie eine enge Vertraute der Königin Marie-Antoinette.
Lady Oscar wird häufig für einen Mann gehalten
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Oscars Geschlechtsidentität ist dabei kein Geheimnis, sie tritt offen als Frau auf, wird jedoch häufig für einen Mann gehalten. Sowohl Männer als auch Frauen machen ihr den Hof. Ihre Geschlechtsidentität und ihr Begehren bleiben dabei über den Lauf der Serie uneindeutig und die Frage, wer wen lieben kann und darf, wird sowohl entlang von Geschlecht als auch entlang von Klasse verhandelt. Nach und nach nehmen dann Klassenfragen eine immer zentralere Rolle in der Handlung ein: Mit der zunehmenden Verelendung der Pariser Bevölkerung beginnt Oscar an ihrem Stand und ihren Loyalitäten zu zweifeln. Als die Französische Revolution ausbricht, schlägt sich Oscar, die mittlerweile in der Armee dient, mit den ihr unterstellten Soldaten auf die Seite der Revolution und stirbt beim Sturm auf die Bastille. Das revolutionäre Grundthema der Serie ist kein Zufall: Riyoko Ikeda war Mitglied in der Kommunistischen Partei Japans und engagierte sich in der Anti-Atom-Bewegung.
Oscar ist keine Superheldin, doch sie und andere Heldinnen aus den Federn der Gruppe der 24 ebneten den Weg für Superheldinnen wie Sailor Moon. Shōjo-Manga sind heute ein anerkannter und zentraler Bestandteil der Manga-Kultur. Zeichnerinnen sind anders als in der westlichen Comic-Tradition schon lange fester Bestandteil der Szene und dominieren gar im Shōjo. Die selbstverständliche Darstellung von Queerness und die Auseinandersetzung mit der eigenen sexuellen Identität der Leser*innen, die schon die Rezeption von »Die Rosen von Versailles« bestimmte, haben die Zeichnerinnen an ihre Nachfolger*innen weitergegeben. Trotz immer wieder auch sehr traditioneller Elemente hat Shōjo ein diverses Repertoire an Held*innen geschaffen, wie es in vielen westlichen Comics erst Jahrzehnte später auftauchten sollte. Diese Held*innen und Superheld*innen haben die Vorstellungen von Geschlecht, Beziehungen und Begehren erweitert. Und eine Welt jenseits von Heteronormativität in mein ländliches Neunzigerjahre-Kinderzimmer getragen – lange bevor ich den Begriff queer überhaupt kannte. Danke, Sailor Moon.