Drei Kämpferinnen der YPJ (Yekîneyên Parastina Jin) stehen zusammen und halten sich im Arm
Die YPJ (Yekîneyên Parastina Jin) verbreiten Angst und Schrecken | Foto: Kurdishstruggle CC BY 2.0

Zeit und Geduld

Über die kurdischen Milizi­onär­innen der YPJ

Die kurdischen Frauenverteidigungseinheiten YPJ haben eine bedeutende Rolle bei der Vertreibung der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) aus Nordostsyrien gespielt. Seither sind sie weltbekannt. In der heutigen Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien (Rojava) führen sie das demokratische Projekt unter schwierigen Bedingungen fort. Es zeigt sich, dass Frauenrechte vor allem im zivilen Alltag umgesetzt werden.

von Anita Starosta und Katharina Tomas

09.10.2023
Veröffentlicht im iz3w-Heft 398
Teil des Dossiers Krieger*innen & Friedensengel

Inmitten des syrischen Krieges und der geopolitischen Machtspiele in der Region hat sich in den letzten zehn Jahren in Nordostsyrien ein Gesellschaftmodell unter kurdischer Führung etabliert. Dieses hat den Anspruch, Rojava demokratisch und gleichberechtigt zu verwalten. Frauen-* und Minderheitenrechte nehmen dabei eine zentrale Rolle ein. In diesem Rahmen kamen beispielsweise die kurdischen Frauenverteidigungseinheiten Yekîneyên Parastina Jin (YPJ) zu Berühmtheit. Die YPJ bilden zusammen mit den YPG (Yekîneyên Parastina Gel) die Volksverteidigungseinheiten, also die bewaffnete kurdische Miliz in Syrien. Auch in den zivilen Bereichen Rojavas nehmen Frauen zentrale Rollen ein. Gleichzeitig sind Frauen in Nordostsyrien durch Krieg, Besatzung und eine patriarchal geprägte Gesellschaft von zunehmender Gewalt betroffen.

Frauen­rechte auf dem Vor­marsch

Bis heute hat die kurdische Kämpferin eine hohe Symbolkraft für die Befreiung Nordsyriens von der Terrormiliz IS. Ikonografische Bilder verbreiteten sich insbesondere 2014/15. Die Frauenverteidigungseinheit YPJ stellte sich damals mit ihren knapp 50.000 Kämpferinnen – die ebenfalls Teil der gesamtsyrischen SDF (Syrische Demokratische Kräfte) sind – dem IS entgegen. Sie waren an der Rettung der vom IS umzingelten Jesid*innen in Shengal beteiligt oder an der Befreiung der Stadt Kobanê. In Syrien und Irak lebte die Terrormiliz in eigenen Kalifaten nach den Regeln der Scharia, wo Frauen besonders unterdrückt waren. Die Versklavung jesidischer Frauen und Kinder fand in den Haushalten der Terrormilizen jedoch ebenfalls durch IS-Anhängerinnen statt. Im Krieg war es für IS-Mitglieder eine besondere Demütigung, von den Frauen der YPJ besiegt zu werden. So spielten die Fraueneinheiten eine besondere Rolle bei den Kämpfen.

Die kurdische Kämpferin hat eine hohe Symbol­kraft für die Befrei­ung Nord­syriens

Seit dem Zurückdrängen des IS 2015/16 umfasst das Gebiet der Autonomen Selbstverwaltung (kurdisch: Rojava) fast ein Drittel des Staatsgebiets Syriens. Dort wird versucht, eine Demokratie unter Beteiligung aller dort lebenden Minderheiten umzusetzen. Gleichberechtigung ist ein wichtiges Ziel. So wurde das System eines Ko-Vorsitzes eingeführt, bei dem sich jeweils eine Frau und ein Mann politische Ämter teilen. Frauenkommissionen setzen auch auf lokaler Ebene Frauenrechte um. Es gibt eine eigene Forschung über Frauenrechte. Die Stärkung sowie Empowerment von Frauen über Beteiligungsmöglichkeiten sind dabei zentral, denn viele wachsen in patriarchalen Familienzusammenhängen auf. In eigens gegründeten Kooperativen – von Landwirtschaft bis Handwerk – erlangen Frauen gemeinsam neue Fähigkeiten und wirtschaftliche Unabhängigkeit.

In einer patriarchal geprägten Gesellschaft bedarf die Umsetzung dieser Vorhaben viel Zeit und Geduld, besonders unter den schwierigen aktuellen Bedingungen. Auf rechtlicher Ebene versucht die Autonome Administration mit neuen Gesetzen die patriarchale Polygamie, Kinderehen sowie Ehrenmorde zu verhindern. Die Gesetzestexte orientieren sich am Nachbarland Nordirak. Dort gibt es ähnliche gewaltvolle Praktiken, aber eine relativ progressive Gesetzeslage. Doch auch hier stellt deren Umsetzung insbesondere diejenigen vor Herausforderungen, die für Rechte eintreten und etwa Anlaufstellen betreiben. Oft sind sie es, die Gewalt erfahren.

Patriarchale Gewalt

Die Stärkung von Frauenrechten und Demokratie kann nur in einem langjährigen Prozess umgesetzt werden. Das gilt insbesondere für die vorliegende konservative, patriarchale Gesellschaft – die zum Teil einige Jahre vom IS beherrscht war. So bleiben häusliche Gewalt, Zwangsheirat und Ehrenmorde tief verankert. Auch gesetzliche Frauenrechte werden von vielen Männern nicht akzeptiert. Sie begreifen es als Angriff auf ihre Ehre, wenn ihre Töchter, Schwestern oder Ehefrauen eigenständig werden. Aktivistinnen vor Ort gehen davon aus, dass auch diese Problematik den Anstieg der Gewalt gegen Frauen bedingt.

Hinzu kommt der permanente Kriegszustand in der Region. Erst kam der IS und dann das türkische Militär mit seinen völkerrechtswidrigen Angriffen und Besatzungen wie in Afrin 2018 und Serêkaniyê 2019. Hundertausende mussten fliehen und leben bis heute in Flüchtlingslagern. Seit über zwei Jahren führt die türkische Regierung einen Drohnenkrieg gegen die Bevölkerung – bisher ohne Konsequenzen seitens der internationalen Gemeinschaft. Die Zerstörung von Krankenhäusern, Schulen und Getreidespeichern verschlechtert die prekäre Lage und die Bevölkerung lebt in dauerhafter Angst vor Angriffen. Krieg, Krise und Vertreibung erhöhen das Risiko von geschlechtsspezifischer Gewalt zusätzlich.

Gerade durch Stress, Traumata und wirtschaftliche Not in Konfliktsituationen, welche zur Verschlechterung der psychischen Gesundheit und Beziehungsqualität führen, wird mehr Gewalt in Partnerschaften ausgeübt.

Orte der Gerechtig­keit vs. Krieg gegen Frauen

Die zuweilen ikonisierten YPJ-Kämpferinnen sind eben auch Betroffene dieser Unterdrückung, aus der sie kommen. Für Frauen, die sich einer Miliz anschließen, kann dieser Akt auch der Versuch sein, dem individuell und politisch zu entkommen. Der erst durch die iranischen Aufstände bekannt gewordene kurdische Slogan »Jin, Jiyan, Azadî« (Frauen, Freiheit, Leben) kommt aus der kurdischen Befreiungsbewegung und er bringt dies gut auf den Punkt.

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Bei bekannter Gewalt gegen Frauen schreiten die Frauenorganisationen der Selbstverwaltung nach Möglichkeit ein. So sind sogenannte Frauenhäuser (kurdisch: Mala Jin) entstanden. In jeder größeren Stadt gibt es ein Frauenhaus als Anlaufstelle. Bei Fällen von häuslicher Gewalt, Zwangsheirat und anderen geschlechtsspezifischen Konflikten sind die Mitarbeiterinnen ansprechbar und suchen Lösungen. Zudem kümmern sie sich um geschiedene Frauen, vermitteln bei Streitigkeiten in Familien und betreuen Konfliktparteien, um Gewalt zu verhindern.

Zusätzlich gibt es Einrichtungen, in denen von Gewalt betroffene Frauen außerhalb der Familie bis zu drei Monate lang untergebracht werden können. Während dieser Zeit werden Gespräche und Verhandlungen mit den Familien der Frauen geführt, damit sie zurückkehren können. Meistens funktioniert das – und die Frauen werden anschließend von den Mala Jin betreut. Frauen, die nicht zu ihren Familien zurückkehren können, werden in ein von medico international unterstütztes Frauenhaus in Remilan gebracht. Es ist derzeit das einzige in Nordostsyrien, obwohl der Bedarf höher ist. Als letzte Station im System der sicheren Unterbringung leben dort zehn Frauen für längere Zeit. Sie sind Opfer von häuslicher Gewalt bis hin zu Todesdrohungen oder können aufgrund konservativer Vorstellungen von Ehre, beispielsweise nach außerehelichen Liebesbeziehungen, nicht mehr in ihren Familien leben.

Die türkischen Drohnen töten gezielt führende Politikerinnen der Selbstverwaltung und Militärs.

In Nordostsyrien gibt es nicht nur die familiäre und Partnerschaftsgewalt gegen Frauen. Angriffe auf Frauen durch das türkische Militär und die Misshandlungen in den durch türkische Söldner besetzen Gebieten wiegen schwer. Die türkischen Drohnen töten gezielt führende Politikerinnen der Selbstverwaltung und Militärs. Durch eine solche Drohne wurde im September 2022 Zeyneb Sarokhan getötet, ehemalige Leiterin eines Kinderheims in Hasakeh und ehemalige Vorsitzende der Frauenkommission der Selbstverwaltung. Es geht darum, Personen auszuschalten, die entscheidende Rollen bei dem demokratischen Projekt einnehmen.

Hinzu kommen immer wieder Berichte der UN über Misshandlungen und Vergewaltigungen durch türkische Söldner in den von ihnen besetzen Gebieten. Die Situation der dort verbliebenen Frauen ist von Gewalt geprägt, sie müssen sich den radikal-islamischen Milizen unterwerfen. Mit Erdoğans erneutem Wahlsieg in der Türkei ist die Hoffnung auf eine baldige Verbesserung dieser Situation verflogen. Auch die militärischen Angriffe und die Bedrohungslage werden vermutlich fortbestehen.

In einer Region, die sich seit zehn Jahren in einem Kriegszustand befindet und wo patriarchale Gesellschaftsstrukturen vorherrschen, ist es eine große Leistung, Frauenrechte als zentrale Kraft für die Zukunft der Region zu begreifen. Sie ist mit dem Willen zur demokratischen Umwälzung verbunden. Die militärische Zerschlagung der Terrormiliz IS und die Beteiligung der Fraueneinheiten daran prägen diese Entwicklung bis heute. Diese Leistungen werden wiederum als Legitimierung für die Stärkung von Frauenrechten gesehen. Zu Recht, denn auch der IS bleibt in der Region aktiv und gerade IS-Anhängerinnen kommt in den Flüchtlingslagern inzwischen eine zentrale Rolle für die Stärkung der Terrororganisation zu.

Anita Starosta ist Referentin für Syrien, Türkei und Irak bei medico international. Katharina Tomas ist Praktikantin bei medico international.

Dieser Artikel ist erschienen im iz3w-Heft Nr. 398 Heft bestellen
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