Reste des Camps Tendrara in Südost-Marokko
Reste des Camps Tendrara in Südost-Marokko und der von Zwangsarbeitern verlegten Schienen | Foto: Archiv recherche international e.V.

Ein Tabuthema

Die Zeit des Holo­caust in Nord­afrika

Die Juden in Nordafrika waren im Zweiten Weltkrieg den französischen und italienischen »Rassengesetzen« unterworfen. Für das dortige jüdische Leben brachte die Zeit eine nachhaltige Zäsur.

von Aomar Boum

11.02.2025
Veröffentlicht im iz3w-Heft 407
Teil des Dossiers Vergessene Befreier

»WAS HÄTTE ICH GETAN, wenn ich ein deutscher Jude gewesen wäre, der mit seiner gesamten Familie auf dem Weg in die Gaskammern war oder – schlimmer noch – dazu gezwungen wurde, einem dieser unvorstellbaren Sonderkommandos anzugehören, von denen erwartet wurde, dass sie ihre eigenen Glaubensgenossen in die Flammen der Öfen warfen, bevor sie selbst darin landeten?« Diese Frage bildete für den algerischen Schriftsteller Anouar Benmalek den Ausgangspunkt seines 2015 erschienenen Romans »Fils de Shéol« (Sohn des Shéol). Er steht für das wachsende Interesse in der frankophonen algerischen Literatur am Holocaust.

»Fils de Shéol« erzählt von drei Generationen einer Familie, die sich auf verschiedene Weise mit Genoziden konfrontiert sahen: Dazu gehören der deutsche Teenager Karl auf dem Weg in die Gaskammern der Nazis in Polen, sein Vater Manfred, ein Kapo, und seine Mutter Elisa, die als algerische Jüdin den französischen Kolonialismus erlebt hat, sowie der Großvater Ludwig, der in der deutschen Kolonialarmee in Südwestafrika (dem heutigen Namibia) diente und zum Augenzeugen des Völkermords an den Herero wurde.

Es ist bemerkenswert, wie in dem eindringlichen Roman »Fils de Shéol« die Geschichte eines deutschen Teenagers mit der Geschichte Namibias, Nordafrikas und des Holocausts verknüpft ist. Auf historische Bezüge zwischen kolonialer Gewalt und dem Holocaust haben Theoretiker*innen des Kolonialismus bereits seit den 1940er-Jahren verwiesen, so etwa W. E. B. Du Bois, Aimé Césaire, Frantz Fanon, Hannah Arendt und Jean-Paul Sartre. Aber es gibt eine viel direktere Verbindung zwischen dem Maghreb und dem Holocaust, die von diesen Autor*innen nicht wahrgenommen wurde.

Juden und Muslime in Nordafrika …


Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs lebte im Maghreb eine der größten und gesellschaftlich vitalsten jüdischen Bevölkerungen in der islamischen Welt. Die meisten waren seit jeher in der Region beheimatet und hatten eine Geschichte, die bis in die vorislamische Zeit zurückreicht. Andere waren nach der spanischen Inquisition oder ihrer Verbannung von der Iberischen Halbinsel nach Nordafrika eingewandert und hatten sich in Städten wie Tétouan und Oran niedergelassen. Jüdische Menschen stellten in Nordafrika zwar eine Minderheit dar und Muslim*innen (Araber und Amazigh oder »Berber«) den dominierenden Bevölkerungsanteil. Aber in einigen Städten und Ortschaften stellten sie einen bedeutenden (und sehr sichtbaren) Teil der Bevölkerung und verfügten als Handwerker und Händler über einflussreiche Positionen.

Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten eine halbe Million Juden in Nordafrika

Vor dem Zweiten Weltkrieg zählte das nordafrikanische Judentum etwa eine halbe Million Menschen. Sie bildeten keine einheitliche Bevölkerungsgruppe, sondern waren sehr divers. Sie verfügten über ungleiche Rechte, sprachen eine Vielzahl von Sprachen, pflegten verschiedene religiöse Rituale (minhagim) und beriefen sich auf unterschiedliche Vorfahren.

In Algerien verfügten die meisten jüdischen Bewohner*innen gemäß dem Crémieux-Dekret von 1870 über die französische Staatsbürgerschaft. In Marokko und Tunesien waren sie hingegen (wie ihre muslimischen Nachbar*innen) eher koloniale Untertanen als Staatsangehörige. Aufgrund ihrer unterschiedlichen rechtlichen und politischen Stellungen in den verschiedenen Ländern erlebten sie auch den Zweiten Weltkrieg auf unterschiedliche Weise.

… und die Zäsur des Zweiten Weltkriegs


Als Deutschland im Mai 1940 Frankreich besetzte, teilte der Waffenstillstandsvertrag das Land in zwei Hälften. Deutschland übernahm die Kontrolle über den Norden des besetzten Frankreichs; das südliche Drittel und seine nordafrikanischen Kolonien (deren koloniale Bürokratie noch weitgehend intakt war) wurden von der Stadt Vichy aus unter der Aufsicht von Marschall Henri Philippe Pétain verwaltet.

Das Vichy-Regime verabschiedete im Oktober 1940 sein erstes antijüdisches Gesetz, in dem festgelegt wurde, dass jüdische Menschen auf dem französischen Festland und in Algerien nach ihrer Ethnie, das hieß hier nach der Religion ihrer Großeltern, definiert werden sollten. Sie durften keine öffentlichen Ämter mehr bekleiden, auch nicht in der Regierung oder beim Militär, und nur in jüdischen Schulen unterrichtet werden. Im selben Monat hob das Vichy-Regime das Crémieux-Dekret auf, mit dem den meisten algerischen Juden 1870 die französische Staatsbürgerschaft verliehen worden war. Mit dieser Entscheidung wurden sie über Nacht staatenlos.

In den Nachbarländern Marokko und Tunesien definierte das Vichy-Gesetz die jüdische Bevölkerung anders, nämlich als Teil einer Religionsgemeinschaft und nicht als ethnische Gruppe. Diese Unterscheidung ermöglichte es den betreffenden jüdischen Gemeinden, während des gesamten Krieges ein gewisses Maß an Autonomie zu bewahren, selbst während der kurzen Besetzung Tunesiens durch die deutschen Behörden vom November 1942 bis Mai 1943.

Obwohl Marokko und Algerien nie unter direkter deutscher Kontrolle standen, waren die Vichy-Behörden nur allzu bereit, tatenlos zuzusehen, als antisemitische Siedler jüdische Menschen (und manchmal auch einheimische Muslim*innen) angriffen und ihr Eigentum und ihre Geschäfte nach der Einführung der antijüdischen Gesetze gezielt enteigneten. Die nordafrikanischen Juden, die unter die Herrschaft von Vichy fielen, wurden wie in Frankreich von den meisten Wirtschaftszweigen ausgeschlossen, wobei Quoten die Zahl der Menschen begrenzten, die etwa an öffentlichen Schulen und Universitäten tätig sein durften. Die existenziellen Auswirkungen dieser Beschränkung waren für die algerischen Juden besonders gravierend, da sie (im Gegensatz zur algerisch-muslimischen Bevölkerung) lange Zeit der französischen Bürokratie und ihren Institutionen gedient hatten. Jüdischer Besitz wurde in der Folge per Vichy-Dekret arisiert (in Tunesien kam der Prozess allerdings durch die Intervention des Beys, des traditionellen Machthabers, ins Stocken). Die Hinterbliebenen in den marokkanischen Städten waren gezwungen, in die Mellahs, die jüdischen Viertel, zu ziehen.

Lager und Zwangs­arbeit


Ab 1940 errichteten die Vichy-Behörden überall im Maghreb und in der Sahara eine Reihe von Straf-, Arbeits- und Internierungslagern und funktionierten bestehende Lager zu Kriegszwecken um. Im italienisch regierten Libyen wurden diese Muster aufgegriffen. Im Maghreb und in der Sahara befanden sich unter den Internierten nordafrikanische Juden (darunter einige mit ausländischen Pässen), alliierte Kriegsgefangene und Männer, die auf der Seite der Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft hatten. Gleichzeitig wurden Hunderte jüdische Menschen nordafrikanischer Herkunft, die in Paris und Umgebung lebten, in das Internierungslager Drancy und von dort aus in Konzentrations- und Todeslager in Osteuropa geschickt.

Obwohl die französischen Behörden davon absahen, antijüdische Gesetze und Verordnungen im Süden Marokkos durchzusetzen, wirkten sich Krieg und Dürre nachteilig auf die Geschäfte der örtlichen jüdischen Hausierer und Händler aus. Zugleich beeinflusste die durch den Krieg hervorgerufene Wirtschaftskrise die rechtlichen und sozialen Beziehungen zwischen den Bevölkerungsgruppen. So weigerten sich beispielsweise Muslim*innen (zuweilen ermutigt von französischen Militärs), Darlehen an jüdische Gläubiger*innen zurückzuzahlen, oder sie nahmen Land in Besitz, das vor dem Krieg an jüdische Händler verkauft worden war.

Die jüdische Bevölkerung in Nordafrika erlebte die Umsetzung der französischen und italienischen »Rassengesetze« durch die Enteignung von Eigentum und wirtschaftliche Entrechtung sowie durch Internierung und Zwangsarbeit. Einige maghrebinische Juden wurden von Nordafrika aus in Todeslager deportiert; in Frankreich lebende nordafrikanische Juden wurden von Westeuropa aus deportiert.

Schriftsteller*innen haben dazu beigetragen, die Zeit des Holocaust in Nordafrika ans Licht zu bringen. Auch nordafrikanische Schriftsteller*innen beginnen, die bislang bestehende Lücke zu füllen, und manche nehmen dafür persönliche Risiken in Kauf. Denn die Erforschung der jüdischen Geschichte und des Holocausts ist im maghrebinischen und nahöstlichen Kontext stigmatisiert. Der Autor Anouar Benmalek wurde sogar mit dem Tod bedroht, weil er den Holocaust anerkannt hat. Heute gibt es in Archiven (und in Privatbesitz) in Nordafrika, Frankreich, Israel, den Vereinigten Staaten und darüber hinaus eine Fülle weitgehend unerforschter Originaldokumente über den Holocaust in Nordafrika. Darüber hinaus gibt es zahlreiche veröffentlichte (oder anderweitig verfügbare) Memoiren und Erinnerungen von Zeitzeug*innen. Es ist an der Zeit, sich in Europa und Nordafrika endlich damit zu befassen.

Aomar Boum stammt aus Marokko und lehrt als Professor für Anthologie an der Universität Los Angeles. Er und die Historikerin Sarah Abrevaya Stein haben die Essay-Sammlung »The Holocaust and North Africa« herausgegeben, aus dessen Einleitung der Text stammt, sowie »Wartime North Africa«. Außerdem referiert er am 8. Mai in Köln, am 9. Mai in Freiburg und am 11. Mai in Hamburg über den Holocaust und Nordafrika.

Dieser Artikel ist erschienen im iz3w-Heft Nr. 407 Heft bestellen
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