Märchen aus dem Abendland
Rezensiert von Winfried Rust
11.12.2023
Veröffentlicht im iz3w-Heft 400
Dinçer Güçyeters Unser Deutschlandmärchen erzählt autobiographisch von einem türkischen Jungen, der in der niederrheinischen Provinz aufwächst. Zugleich erzählt der Roman die Migrationsgeschichte seiner Familie aus verschiedenen Sichtweisen und in unterschiedlichen Stilen. Eine wichtige Rolle nimmt die Perspektive der Mutter ein, deren Innenleben sich – jenseits der Rollen als Arbeiterin und Hausfrau – als vielschichtig erweist. Die Geschichte der Familie ist von Armut, Patriarchat und anatolischem Konservatismus geprägt, was sie nicht daran hindert, zu neuen Ufern aufzubrechen. Die Familie steuert auf das Deutschlandmärchen der Arbeitsmigration zu, also auf eine halb integrierte Vita im unteren Fünftel der bundesrepublikanischen Gesellschaft.
Und zuletzt erzählt Güçyeter noch einmal eine ganz andere Geschichte: von seinem Ausbruch aus den Erwartungen, die sowohl die deutsche Gesellschaft als auch seine Familie an ihn stellen. Der Werkzeugmechaniker wider Willen entpuppt sich dann als hochsensibler, poetischer und nicht zuletzt seine traditionelle Männerrolle überwindender Mensch. So wohnen wir einer Verwandlung bei, bei der sowohl die anatolische als auch die niederrheinisch-deutsche Normalität hinterfragt und poetisiert wird bis Dämonen, Cleopatra oder Ophelia durch den Text mäandern. Wie beim »Deutschland, ein Wintermärchen« von Heinrich Heine verwandelt die Sprache das Banale in Utopie. Wer diesen Roman nicht liest, ist verrückt.
Ein Deutschlandmärchen ist kein Zuckerschlecken.
Die Reise beginnt mit der Geschichte der namenlosen Urgroßmutter und der Großmutter Hanife. Pferdekarren klappern über den Marktplatz und das Getreide wird gedroschen. Aber die Frauen werden sehr unidyllisch misshandelt. Auch die folgende Tochter Fatma, Dinçers Mutter, bekommt zuerst einmal Schläge. Danach streut Güçyeter eine erste poetisierte Betrachtung, »Das Lied Anatoliens «, ein. Die Häuser stehen »mit hängenden Köpfen« herum und »trotz der festen Netze kann die Seele haltlos werden«.
Von da geht es weiter nach Deutschland, in die Schuhfabrik, zum Kneipenjob und auf den deutschen Acker. Güçyeter erzählt die Geschichte aus verschiedenen Sichtweisen in unterschiedlichen Stilen. Der kleine Dinçer unterstützt die Mutter bald beim Geldverdienen. Wegen seines schlechten Deutschs wiederholt der spätere Lyriker eine Klassenstufe. Die Ausbildung zum Werkzeugmechaniker bringt ihm Aufstehen um vier Uhr und Blasen an den Händen ein. Die Kollegen verspotten ihn. Ein Deutschlandmärchen ist kein Zuckerschlecken. Aber das Deutschlandmärchen bei Güçyeter bringt auch die Entdeckung von etwas ganz anderem mit sich.