Tödliches Schweigen?
Deutschlands Rolle beim Völkermord in Ruanda
Am 7. April 1994 begann der Genozid in Ruanda. Das Morden an den Tutsi, gemäßigten Hutu und Oppositionellen war akribisch geplant. Pogrome an Tutsi hatten Vorläufer. So hatte auch die deutsche Botschaft in Kigali damals Kenntnisse über die Gefahr von Massakern. Die deutsche Regierung reagierte vor dem Völkermord nicht ausreichend auf solche Hinweise.
»Ein Genozid fällt nicht einfach so vom Himmel. So etwas kündigt sich an.« Pascal Bataringaya sitzt auf der Terrasse eines Apartments in Kigali. Heute ist Bataringaya Vorsitzender der presbyterianischen Kirche Ruandas. Vor 30 Jahren war er Mitglied im Kirchenchor, den der deutsche Pfarrer Jörg Zimmermann in Ruandas Hauptstadt leitete. Mit ihm habe er oft über die angespannte Stimmung in Ruanda diskutiert. Er erinnert sich an extremistische Hutu-Milizen, die schon ab 1993 durch die Hauptstadt Kigali zogen, Straßensperren errichteten und Tutsi angriffen.
Klare Warnzeichen
Diese Machtdemonstrationen der Milizen, der Interahamwe, hat auch der evangelische Pfarrer Jörg Zimmermann noch vor Augen. In seinem Büro im Pfarrhaus in Neuss blättert er in Fotoalben aus seiner Zeit in Ruanda von 1991 bis 1994. 30-jährig zog er mit seiner Familie in das ostafrikanische Land.
»Die deutsche Vertretung neigt dazu, die Gefährdungslage in Ruanda herunterzuspielen«
Zimmermann zeigt Bilder, die aussehen, als stammen sie von einer Straßendemo. Junge Männer in bunten Hemden laufen im Pulk durch die Straßen von Kigali. Damals stand er mit einem Freund, der die Fotos machte, am Straßenrand. Das sei auch für Europäer*innen nicht ungefährlich gewesen, sagt der Pfarrer. Denn viele Menschen, die Anfang der 1990er-Jahre in Ruanda lebten, wussten genau: »Die Interahamwe, das sind Rassisten, die bringen die Tutsi um.« Das sei klar gewesen: »Wer sagt, mir war das nicht klar, da weiß ich nicht, wo der gedanklich war. Das war eindeutig.«
Die deutsche Botschaft in Kigali schien das nicht zu begreifen. In einem Schreiben an das Auswärtige Amt vom 21. März 1993 bezeichnete sie die Interahamwe-Milizen, die später maßgeblich am Völkermord beteiligt waren, lediglich als jugendliche Parteianhänger. Das belegen Akten.
»Eine Fehleinschätzung von vielen«, erklärt Politikwissenschaftler Anton Peez. Er arbeitet am Peace and Research Institut der Goethe Universität Frankfurt und hat sich bereits 2021 mit der Rolle der deutschen Außenpolitik Anfang der 1990er-Jahre in Ruanda auseinandergesetzt. Besonderes Augenmerk legt Peez auf den Bericht eines Menschenrechtsbündnisses vom Jahresanfang 1993. Darin sei die Schwelle zum Völkermord konkret diskutiert worden. Das Auswärtige Amt in Bonn forderte eine Einschätzung der deutschen Botschaft an. Am 2. Februar 1993 schrieb die Botschaft: »Die pauschalen Vorwürfe ‚Völkermord‘ und ‚Kriegsverbrechen‘ könnten sich auf die an den Tutsi verübten Gewalttaten beziehen. In dem im Wort ‚Völkermord‘ implizierten Ausmaß, nämlich in der Vernichtung eines ganzen Volkes, liegen die an der Ethnie der Tutsi verübten Verbrechen ganz sicher nicht.«
Im Rückblick ist klar: Der Genozid in Ruanda war minutiös geplant und von Hutu-Extremisten in staatlich hohen Positionen orchestriert. Macheten und andere Waffen waren in den Wochen und Monaten vor Beginn des Mordens im ganzen Land verteilt worden. Die Milizen der Interahamwe wurden in Camps der ruandischen Armee ausgebildet, Todeslisten wurden angefertigt.
Die Rolle der Medien
Auch die Medien hetzten gegen die Tutsi. Das war seit Mitte 1993 vor allem der private Radiosender Radio Télévision des Milles Collines, in dem die Tutsi als Kakerlaken und Ungeziefer bezeichnet wurden, welches getötet werden müsse. Die Zeitung Kangura schürte Hass und Hetze. Schon im Oktober 1990 wurden dort die »Zehn Gebote der Hutu« veröffentlicht. Daran erinnert sich Pfarrer Jörg Zimmermann.
Kangura, sagt er, sei ein rassistisches Blatt gewesen. Seit Ende des Genozids wird es als eines der treibenden Medien des Völkermords an den Tutsi bezeichnet. Sein Herausgeber, Hassan Ngeze, wurde 2003 vom Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda zu einer über 30-jährigen Haftstrafe verurteilt. In den Akten des Auswärtigen Amtes steht nichts zu dieser Zeitung. Auch nicht in den Halbjahresberichten zur politischen Öffentlichkeitsarbeit der deutschen Botschaft in Kigali, in der die wichtigsten Presseorgane des Landes aufgeführt waren. Stattdessen heißt es im Bericht vom 30. April 1993: »Das Pressebild wird zunehmend belebt.«
»Wir hätten viel früher viel lauter schreien müssen«
An die Hetze in den Medien, vor allem im Radio Télévision des Milles Collines, erinnert sich auch Helmut Asche. Er war ab 1991 als volkswirtschaftlicher Regierungsberater der damaligen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, GTZ (heute GIZ) in Ruanda. Spätestens seit dem Sommer 1993 habe er das Gefühl gehabt, dass die Situation jederzeit kippen könne. Asche berichtet von Bombenanschlägen in Ruandas Hauptstadt Kigali. Eine Bombe sei auch gegenüber dem GTZ-Büro explodiert. Der damalige Sicherheitsbeauftragte der GTZ hat diese Vorfälle übermittelt. »An die GTZ-Zentrale in Eschborn, aber immer auch mit Durchdruck an die Deutsche Botschaft«, sagt Helmut Asche. Aber sowohl das Entwicklungsministerium als auch die GTZ-Zentrale in Eschborn hätten entschieden, solche Informationen nicht allzu hoch zu hängen. Die Entwicklungshilfe, sagt Asche mit Frust in der Stimme, sollte ja weiterlaufen.
»Panikmache vermeiden«
In den Akten des Auswärtigen Amtes findet sich zu diesen Vorfällen eine Weisung des Auswärtigen Amtes an die deutsche Botschaft in Kigali. Im Januar 1993 verlangte Bonn einen Bericht zur Sicherheitslage in Ruanda. »Nicht bedenklicher als in den Vormonaten«, heißt es in der Antwort der Botschaft. Und in Bezug auf den erwähnten Sicherheitsbeauftragten der GTZ steht: »Eine sachliche, nüchterne, der aktuellen Sicherheitslage angepasste Verhaltensweise des örtlichen GTZ-Sicherheitsbeauftragten würde die Botschaft außerordentlich begrüßen.«
Der weitere Schriftwechsel in den Akten zeigt, dass diese Antwort der Botschaft nicht überall gut ankam. Nicht beim Entwicklungsministerium, nicht bei der GTZ in Eschborn und erst recht nicht vor Ort. »Der Botschafter wurde zitiert mit der Aussage, wir wollen Panikmache vermeiden«, erinnert sich Helmut Asche. Das richtete sich in dem konkreten Fall an den GTZ-Sicherheitsbeauftragten, aber das sei generell das Leitmotto des damaligen deutschen Botschafters in Kigali gewesen: Panik vermeiden.
Aber nicht nur Helmut Asche zweifelte an der Einschätzung des Botschafters. Auch das Auswärtige Amt schien sich zu sorgen. In einer Notiz mit dem Titel »Elemente für ein Schreiben an den Botschafter in Kigali« vom 5. Februar 1993 heißt es: »Aufgrund der vorliegenden Informationen, auch von unseren europäischen Partnern, vor allem Belgien, müssen wir annehmen, dass die Vertretung in Kigali dazu neigt, die Gefährdungslage in Ruanda herunterzuspielen.« Versuche, die Botschaft »etwas sensibler zu machen«, seien erfolglos gewesen.
Digitales Schnupperabo
Drei Monate schnuppern, lesen, schmökern.
Sie blieben es, bis in der Nacht zum 7. April 1994 das Flugzeug des ruandischen Präsidenten Juvénal Habyarimana abgeschossen wurde und das Morden begann. Helmut Asche und auch der evangelische Pfarrer Jörg Zimmermann hörten den Knall. Am nächsten Morgen erfuhren sie vom Tod des Präsidenten. Zimmermann sei klar gewesen, dass alle Tutsi und Oppositionellen in Lebensgefahr seien. Aber: »Das, was dann passiert ist, habe ich mir in meinen schlimmsten Albträumen nicht vorgestellt.«
Fast eine Million Menschen wurden im Völkermord in Ruanda in nur 100 Tagen brutal abgeschlachtet. Die Weltgemeinschaft schaute zu. Dabei hätte sie schon vor dem Genozid agieren können. Die Fakten lagen auf dem Tisch.
Editorial
Zwar spielte Deutschland, im Vergleich zu Belgien oder Frankreich, direkt vor dem Völkermord keine zentrale Rolle. Trotzdem war Deutschland einer der größten Geldgeber für Entwicklungshilfe. Politikwissenschaftler Anton Peez verweist darauf, dass Kanada schon 1992 sein Budget für Entwicklungszusammenarbeit gekürzt hatte – wegen der Verschlechterung der Menschenrechtslage in Ruanda. Die Akten des Auswärtigen Amtes hingegen belegen, dass Deutschland mit Ruanda noch Ende 1993 über neue Entwicklungshilfen verhandelte. Und die Akten belegen Streitigkeiten zwischen dem Auswärtigen Amt, dem Ministerium für Entwicklungszusammenarbeit und dem Verteidigungsministerium. Keine Einigkeit und zu wenig Absprachen, sagt Peez.
Ähnliches ereignete sich 2021 in Afghanistan. Auch damals wurden Warnungen lange Zeit nicht ernst genommen. Die Zusammenarbeit zwischen den Ministerien lief schlecht, so steht es im Bericht der Enquete-Kommission. Lehren aus Ruanda zog die Bundesregierung da nicht.
Eine Kommission für eine Aufarbeitung der Rolle der deutschen Außenpolitik in Ruanda gibt es, zumindest noch, nicht. 30 Jahre nach dem Völkermord gegen die Tutsi ist die Rolle Deutschlands nur ansatzweise erforscht, während viele derer, die damals vor Ort waren, ihre Rolle hinterfragen. Auch Jörg Zimmermann. »Wir hätten viel früher viel lauter schreien müssen«, sagt er heute. Vor allem, fügt er hinzu, viel zielgerichteter gegenüber den relevanten Einrichtungen. Zimmermanns Fazit: »Das wäre nötig gewesen und das haben wir auch ein Stück weit vermissen lassen.«