
Eine türkische Nomadin
Eine Recherche entlang der Romane von Elif Shafak
Die englisch-türkische Romanautorin Elif Shafak hat eine turbulente Lebens- und Werkgeschichte hinter sich. Ihre Romane reflektieren aus unterschiedlichen Perspektiven die Geschichte und Gegenwart der Türkei.
Elif Shafaks Leben ist selbst eine Geschichte, Teil des türkischen Puzzles, welches ihre Romane, die man auch als Kriminalromane bezeichnen könnte, reflektieren. Es sind jedoch keine Kriminalromane im üblichen Sinne. Vielmehr Geschichten, die mit einem Rätsel beginnen, zum Beispiel der Konfrontation mit einem unaufgeklärten Mord – oder mit der lautstarken Forderung nach einer Abtreibung im Wartezimmer eines Frauenarztes, so beim Anfang von Elif Shafaks Roman »Der Bastard von Istanbul«. Solche rätselhaften Ausgangspunkte der Romanhandlung ziehen das Publikum in die Recherche hinein.
Shafaks Biographie ist die Geschichte einer Intellektuellen, die sich als Nomadin bezeichnet und Migration zu einem wichtigen Thema ihrer Romane macht: etwa das Anderssein und Andersmachen der russischen Revolutionsflüchtlinge in Istanbul; der Lebenskampf der Frauen, die auf der Flucht vor ihren restriktiven Familien in der Prostituiertengasse landen; oder eine türkisch-kurdische Familie, die in London nach einem besseren Auskommen sucht. Ihr letztes Buch, »Das Flüstern der Feigenbäume« über Zypern nach der griechisch-türkischen Spaltung (iz3w 395) ist den Entwurzelten gewidmet. Es beschreibt den Abgrund, der sich zwischen den Bürgerkriegsparteien auftut, aber auch zwischen denen, die geblieben und denen, die gegangen sind, ein selten gesehener Aspekt.
Unterwegs in mehreren Sprachen
1971 in Straßburg geboren und als Tochter eines Philosophiedoktoranden in einer 68er-Atmosphäre mit Diskussionen über Sartre im Rauch der filterlosen Gauloises aufgewachsen, zieht die Fünfjährige nach der Scheidung der Eltern zur Großmutter nach Ankara in ein gutbürgerliches Viertel mit Großfamilien und patriarchalen Strukturen. Die Großmutter, mit traditionellen Heilmethoden vertraut, empfängt in ihrem Haus ihre Klient*innen. Die Mutter schließt an der Universität ihr abgebrochenes Studium ab. Elif fällt in der Nachbarschaft und in der Schule aus dem Rahmen. Sie beginnt ein Tagebuch mit erfundenen Geschichten. Nach dem Studienabschluss der Mutter und deren Eintritt in den türkischen diplomatischen Dienst verbringt Elif ihre weitere Schulzeit in Spanien. Zum Studium kehrt sie nach Ankara zurück, schreibt sich in die neugegründeten Gender Studies ein und promoviert in Politikwissenschaft. Eine vielversprechende Karriere als Dozentin für Nahostpolitik und Genderfragen beginnt mit Stationen in den USA. Durch die Heirat mit einem türkischen Journalisten ist sie für einige Zeit an Istanbul gebunden, aber schon bald pendelt die Familie zwischen den USA, London und Istanbul.
Der Anwalt der Schriftstellerin verteidigte vor Gericht eine fiktive Figur
Die Autorin bezeichnet sich als Sprachnomadin. In Amerika hat sie begonnen, auf Englisch zu schreiben und pendelt seitdem zwischen dem Englischen und dem Türkischen. Das Englische ist für sie die Sprache der Befreiung von Tabus und Selbstzensur, der Analyse und der Ironie. Ihre Muttersprache Türkisch bleibt das bevorzugte Medium für Emotionen. So ist der Umgang mit der Sprache politisch, die Umsetzung literarisch. Die türkischen Ausgaben ihrer englisch geschriebenen Romane sind keine einfachen Übersetzungen, sondern von ihr selbst betreute Neuausgaben auf Türkisch – ein zweites Original. Shafak wechselt je nach Thema zwischen den Sprachen: Ihre Autobiographie erschien auf Türkisch »Als Mutter bin ich nicht genug« (Siyah Süt – Schwarze Milch, 2007), ebenso ihr zu Unrecht als Soap-Opera verspotteter früher Roman »Der Bonbonpalast« (Bit Palas – Floh Palast, 2002). »Der Bastard von Istanbul« (Baba ve Piç – The Bastard of Istanbul, 2006), der sie in Schwierigkeiten bringen wird, ist auf Englisch verfasst.
Elif Shafaks Entscheidung für Englisch hat zu Irritationen in ihrer Heimat Türkei geführt. Aber auch im Türkischen selbst verhält sie sich unangepasst. Sie ignoriert die verbindlichen Sprachregelungen, die die persischen und arabischen Wörter des osmanischen Türkisch durch neugeschaffene türkische Wörter ersetzt, indem sie die ‚veralteten‘ Wörter als Bereicherung verwendet. »Sie ist Türkin. Sicher. Aber sie kann kein Türkisch!« ist der Aufschrei der Kritik, eine Fundamentalkritik, die sie mit ihrem Kollegen Orhan Pamuk teilen muss. Heute lebt Elif Shafak in London.

Destruktive Kritik
Ihr Familienroman »Der Bastard von Istanbul« brachte Elif Shafak in politische Schwierigkeiten: Sie wurde wegen »Beleidigung des Türkentums« nach Paragraph 301 des Strafgesetzbuches angezeigt, betrieben von einem rechts-nationalen Anwaltsteam, das bereits gegen Orhan Pamuk und Hrant Dink und später gegen mehr als hundert weitere Intellektuelle vorging. Thema des Romans ist das Zusammentreffen einer türkischen Istanbuler Familie und einer in Amerika lebenden armenischen Familie, die auf ihr Genozid-Familientrauma zu sprechen kommt. Ein Tabubruch, denn bis heute weist die türkische Regierung den weltweit anerkannten Genozid an den Armenier*innen zurück. Die offizielle türkische Politik wirft den Armenier*innen ihrerseits Terroraktionen vor, begangen in den 1915er-Jahren während des Ersten Weltkriegs in den chaotischen Zeiten der Auflösung des Osmanischen Reiches. Obwohl in der türkischen Fassung des Romans im Unterschied zur englischen Originalfassung diese Argumentation zur Sprache kommt, wird ein Gerichtsverfahren angestrengt und zieht sich über ein Jahr hin. Ironisch kommentiert die Autorin später, ihr Anwalt habe die seltsame Aufgabe erledigt, vor Gericht eine fiktive Figur zu verteidigen.
Der Freispruch kam einen Tag nach der Geburt ihres ersten Kindes. Aber die Fernsehbilder des vor dem Gericht tobenden Mobs, der ihre Fotos zerriss und verbrannte, und die politisch motivierte Ermordung ihres Freundes Hrant Dink auf offener Straße ein halbes Jahr später führten zu Shafaks Rückzug aus der Öffentlichkeit. Zwei Jahre lang verließ sie das Haus nur in Begleitung eines Bodyguards, versunken in eine postnatale Depression und eine monatelange Schreibkrise.
Elif Shafak, die heute auf den internationalen Diskussionsforen als Kritikerin der türkischen Regierung präsent ist, hat sich in den ersten Jahren nach dem Prozess politischen Interviews verweigert. Ihr Thema sei nicht die Türkei, sondern die türkische Gesellschaft, sie habe mehr als eine Heimat. Und hinzufügend mit der Bitte um Verständnis: Schon ein Wort kann ins Gefängnis führen, das wissen wir alle, so ihre Erklärung. In diese Zeit des Rückzugs fallen zwei auf Englisch geschriebene historische Romane: Zum einen über die islamische Mystik, der sie selbst nahesteht, mit einem Brückenschlag nach Westen in der Rahmenhandlung; zum anderen über den Architekten der berühmten Istanbuler Moscheen. Zum dritten schrieb sie, ebenfalls auf Englisch, eine klassische Migrationsgeschichte, die von Ostanatolien über Istanbul nach London führt.
Weit ausholende Zeitporträts
Die historischen Romane schreiben an gegen das Abkoppeln von der Geschichte, das seit den Gründungsjahren der Republik die Modernisierung der Türkei prägt. Es sind antiheroische Romane, die zugleich ein komplexes Gegenbild zu den aktuellen, neo-osmanisch gewendeten türkischen TV-Filmserien über das Osmanische Reich (iz3w 372) entwickeln. Die ‚Helden der Geschichte‘ werden in ihrer Zeitgebundenheit gezeigt, als Lehrende und Lernende zugleich: Der »Architekt des Sultans« (The architect’s apprentice, Ustam ve Ben – Der Meister und ich, 2013) führt in die Bauwerkstätten der Arbeiter und Sklaven und zeigt den mühsamen Kampf um die Rettung der Hagia Sophia und den Ausbau des byzantinischen Wassersystems durch den schon zu seiner Zeit berühmten Architekten Sinan.
Sie wird Dissidentin und nimmt die englische Staatsangehörigkeit an
Im Roman »Die vierzig Geheimnisse der Liebe«, im englischen Original »The 40 rules of Love« (türkisch Aşk – Liebe, 2009) werden die Kernanliegen des Sufismus, der islamischen Mystik, anhand von vierzig Sentenzen formuliert. Das Buch führt in die Gründungszeit des Mevlevi-Ordens der tanzenden Derwische, der wie alle islamischen Orden im Säkularisierungsprozess nach der Republikgründung verboten wurde. Das Konzept des Sufismus, im Roman dargestellt als eine anti-orthodoxe Bewegung, stieß auf ebenso lautstarke Kritik wie auch die Darstellung des Architekten Sinan, geschildert aus der Perspektive eines Assistenten. Beide Romane wurden Bestseller in der Türkei. Die weit ausholenden Zeitporträts wenden sich gegen die Tabuisierung der Vergangenheit, eine staatlich verordnete Amnesie.
Auch der dritte Roman dieser Zeit wurde heftig kritisiert, diesmal tat sich die links-orientierte türkische Seite in Deutschland hervor. »Ehre« (Originaltitel: Honour, 2011) ist ein klassisches Migrant*innendrama, das sich in einem Ehrenmord entlädt. Auf Englisch geschrieben, wurde die türkische Ausgabe unter dem Titel »Iskender« – dem Namen des Täters – wiederum zum Bestseller. Die Problematik wird aus der Innenperspektive der betroffenen Familie gezeigt, die Vorgeschichte des Ehrenmords erscheint als die schrittweise Usurpation einer archaischen Männerrolle, der Anteil der Frauen an dieser Entwicklung wird deutlich. Es ist eine komplexe Geschichte ohne die üblichen Vereinfachungen.
Drei Romane über Frauen
Mit dem nebulösen Putschversuch gegen Erdogan 2016 und der anschließenden Verfolgung der sogenannten FETÖ-Anhänger des Predigers Fetullah Gülen gerät auch Shafaks Ehemann in politische Schwierigkeiten und verlässt Istanbul. Elif Shafak, die den Putschversuch verurteilt, wird zur Kritikerin der nachfolgenden türkischen Entwicklungen. Der Weg in die Türkei ist ihr von nun an versperrt. Sie wird zur Dissidentin und nimmt die englische Staatsangehörigkeit an. In dieser Situation entstehen drei weitere Romane, es sind auf Englisch geschriebenen Geschichten, die von Dokumenten begleitet werden. Die Bücher sind Sachbücher und Romane zugleich, basierend auf jahrelangen Recherchen. Nach deren Abschluss, so beschreibt es die Autorin selbst, legt sie die Befunde beiseite und beginnt in einem kreativen Schreibprozess die Geschichten ihrer fiktiven Personen zu entwickeln. Dabei lässt sie sich von den Figuren führen, deren Geschichten nicht vorab festgelegt sind. Es entsteht ein Netz verschiedener Geschichten in der Geschichte, Spiegel der Gesellschaft und Gesellschaftsanalyse zugleich. »Ich bin eine leidenschaftliche Geschichtenerzählerin«, erklärt Shafak. Am Ende finden die Puzzlesteine ihrer Geschichten zusammen, dem Gesetz einer poetischen Gerechtigkeit verpflichtet. Dazu sagt sie: »Vieles ist wahr und alles ist Fiktion«.
Digitales Schnupperabo
Drei Monate schnuppern, lesen, schmökern.
An den Rand der Gesellschaft gedrängt, ausgeschlossen von den Zentren der Macht, aber vom Machtmissbrauch betroffen, verortet Elif Shafak die Frauen. Ihre Romane erzählen aus feministischer Perspektive, sie geben den Frauen, die nicht gehört werden, eine Stimme: Da ist die Prostituierte Leila, die ermordet in einem Müllcontainer liegt und im allerletzten Zeitfenster bis zu ihrem Hirntod versucht, ihr Schicksal zu ergründen in »Unerhörte Stimmen« (10 Minutes 38 seconds in this strange world – 10 Minuten 38 Sekunden in dieser seltsamen Welt, 2019). Da ist die Istanbulerin Peri, eine der drei Töchter Evas, die einen Dieb verfolgt und in eine lebensgefährliche Lage gerät, im Roman »Der Geruch des Paradieses« (Three daughters of Eve – Drei Töchter Evas, 2016). Die dritte Story beschreibt die junge Ada, in London geborene Tochter eines exilierten zyperngriechisch-zyperntürkischen Paares, die in einem markerschütternden Schrei das Elend der Nachgeborenen herausschreit: »Das Flüstern des Feigenbaumes« (The Island of Missing Trees – Die Insel der verlorenen Bäume, 2021). Die Gesellschaft bietet keinen Schutz, Hilfe finden diese Frauen in der Solidargemeinschaft von Frauen.
Wenn Einheit misslingt, Teilung fehlschlägt und Spaltung bleibt
»In der Türkei funktionieren Filme über das Ohr«Der Regisseur Cem Kaya über Geschichte und Entwicklung des türkischen Horrorfilms
In ihren wissenschaftlichen Arbeiten hat sich Elif Shafak mit Rollenbildern, Rollenzuweisungen und Othering beschäftigt. Ihre Dissertation stellt eine »Analyse der türkischen Modernität durch Diskurse von Männlichkeit« auf. In ihren Interviews bezeichnet sie sich als Feministin, erklärt ihre Unterstützung für LGBTQ+ und outet sich im Jahr 2016 als bisexuell, um sich auch persönlich an die Seite der in der Türkei bedrängten LGBTQ+-Bewegung zu stellen.
Elif Shafaks Feminismus unterscheidet sich vom Feminismus westlich-individualistischer Prägung durch die Einbindung in einen Familienkontext. Die Familie ist der eigentliche Bezugspunkt. Sie wird daran gemessen, dass sie sich – als Solidargemeinschaft – inklusiv verhält und zugleich den Familienmitgliedern individuelle Freiheit gibt. So wird etwa der ‚Bastard‘ in den Familienclan als zugehörig aufgenommen, der illegitime Vater jedoch seiner Strafe zugeführt. Diese gesellschaftliche Utopie wird konfrontiert mit den aktuellen gesellschaftlichen Zerreißproben, in die die kleiner werdenden Familien hineingezogen werden. Aktuell die Konfrontation von Säkularismus und Islamismus, in den Jahren zuvor von Rechts und Links, insbesondere bei den Jugendlichen. Andererseits das Versagen der traditionell orientierten autoritären Familienclans, denen die notwendige Öffnung nicht gelingt. Familie bestimmt nach türkischer Lesart das Schicksal aller und gerade auch derer, vor allem der Frauen, die in die Flucht getrieben werden. »Feminismus ist für alle« heißt dazu Elif Shafaks Gesellschaftskonzept.
Die transkulturelle Türkei
In der Welt dieser Bücher gibt es keine scharfe Grenze zwischen Ost und West, etwa entlang von Ländergrenzen. Die Übergänge sind fließend: Historisch gesehen vor allem geprägt von kulturellem Austausch, im beginnenden 20. Jahrhundert von der Orientierung der jungen türkischen Republik an europäischen Modellen, gegenwärtig bestimmt durch Erfahrungen mit Migration und der Aufnahme politisch Verfolgter in beide Richtungen. In »Der Architekt des Sultans« über Mimar Sinan stellt Shafak die weltweiten Verbindungen seiner Architektur in das Rom Michelangelos und zum Taj Mahal in Indien heraus und beschwört die transkulturellen Wurzeln der türkischen Kultur. Das Buch über die islamische Mystik führt von Amerika und Westeuropa nach Konya, dem Gründungsort des Mevlevi-Ordens, und erzählt die Geschichte aus der Feder eines westlichen Pilgers auf seiner letzten Reise vor dem Tod. Der Überlegenheitsanspruch westlicher Aufklärung wird in der Figur des manipulativen Oxforder Professors Azur offen gelegt und schließlich durch die dem Sufismus zuneigende Istanbulerin Peri infrage gestellt, eine der drei Töchter Evas, drei Freundinnen, die den Islam sehr unterschiedlich leben. »Die Türkei und der Islam sind so viel mehr als hier in England wahrgenommen wird«, hat Elif Shafak einmal angemerkt. Für Deutschland, das ‚Gastarbeiterland‘, gilt das ebenfalls.