Foto eines Schiftzugs auf einer Mauer in Kos, Griechenland: No one is illegal mit einem Stern
Graffiti auf Kos, Griechenland. Kein Mensch ist illegal | Foto: Miko Guziuk, Unsplash

Entmenschlicht

Was ist falsch an der klimabedingten Migrationsdebatte der EU?

Immer häufiger wird die Klimakrise der Anlass für Flucht und Migration. Anerkannt als legitimer Fluchtgrund wird sie bei der Suche der Geflüchteten nach Schutz in aller Regel nicht. Die EU kennt keinen verbrieften Schutz für Klimaflüchtlinge. Das fällt zusammen mit einem Narrativ, das die Betroffenen im Opferstatus hält oder die von ihnen genutzte Bewegungsfreiheit auf der Suche nach einem sicheren Ort als Argument für eine nationalistische Abschottungspolitik nutzt. In beiden Fällen werden die betroffenen Menschen diskursiv entmenschlicht. In beiden Fällen wird von der Verantwortung des Nordens abgelenkt. Doch das Narrativ bröckelt.

von Julia Reiff und Lennart Deilmann

28.11.2023
Teil des Dossiers Klimakrise und Migration

In den 1970ern kam der Begriff »Klimaflüchtling« das erste Mal auf, wurde aber erst in den 1980ern breit verwendet. Besonders die aktivistische Blase von Umweltschützer*innen bediente sich des Begriffs, um auf die Missstände und das Versagen des Globalen Nordens aufmerksam zu machen. Da dieser Diskurs aber vorrangig von weißen, akademisch geprägten Umweltaktivist*innen aus dem Globalen Norden getragen wurde, schlichen sich schon früh problematische Interpretationen ein, die unsere Wahrnehmung von klimabedingter Migration bis heute prägen. So werden Geflüchtete aufgrund der Situationen in ihren Ländern viktimisiert und oft einer gesichtslosen Masse Migrierender zugeschrieben. Und damit in den täglichen Medien ihrer Individualität und ihres Menschseins beraubt.

Geflüchtete werden auf­grund der Situation­en in ihren Ländern viktimi­siert und oft einer gesichts­losen Masse Migrie­render zuge­schrieben

Diese Degradierung betrifft auch Umweltgeflüchtete und zeigt sich in dem Unwillen der EU, die unterschiedlichen Auswirkungen der Klimakrise als Fluchtursache anzuerkennen. In dem in der EU gültigen Flüchtlingsrecht – der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 – sind die Definition von »Flüchtlingen« sowie deren Schutz und Rechte festgehalten. Die Konvention bildet die Niederschreibung unterschiedlicher Diskussionen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Vor allem ging es um die aus Nazi-Deutschland flüchtenden Menschen wie zum Beispiel die 937 fast ausnahmslos deutschen Juden und Jüdinnen an Bord der St. Louis, die 1939 den Hafen von Hamburg verließen, jedoch weder von Kanada noch der USA eine Landeerlaubnis erhielten und somit eine zweimonatige Irrfahrt durchstehen mussten. Trotz Touristenvisa durften nur vereinzelt Menschen das Boot verlassen. Schließlich gab die belgische Regierung grünes Licht. Es wurde also klar: Eine festgeschriebene Regelung musste her.

Die EU – Retterin in der Not?

An der Debatte um Klimaflucht zeigt sich nun erneut eine Dichotomie: Einerseits inszenieren sich die Mitgliedsstaaten der EU gerne als Retter*innen von Geflüchteten. Andererseits ist die Klimakrise nicht als Fluchtursache in hiesigem Recht verankert. Ein fortbestehendes Narrativ in dem Papier »Bekämpfung von Vertreibung und Migration im Zusammenhang mit Katastrophen, Klimawandel und Umweltzerstörung« der Europäischen Kommission von 2022 besteht in der Viktimisierung von »Klimaflüchtlingen« als passive, hilfsbedürftige »Opfer« einer unabwendbaren Katastrophe. Diese häufig von westlichen Wohlfahrtsvereinen getragene Darstellung biedert sich allzu oft an ein weißes Helfer*innensyndrom an, indem insbesondere humanitäre Interventionen in Drittstaaten als großzügige, freiwillige Hilfe formuliert und bildlich entsprechend in Szene gesetzt werden. Während diese Darstellung effektiv ist, um Aufmerksamkeit und Spenden zu generieren, steht sie gleichzeitig einer vollen Anerkennung der Verantwortung von Seiten der Staaten des Globalen Nordens im Wege. Denn diese Opfer-Helfer*in-Dichotomie fragt nicht nach den Ursachen der beschriebenen Lage. Dass sich damit genau die Staaten profilieren, die am meisten zu eben dieser Katastrophe beitragen, wird dabei ebenso unkenntlich gemacht wie die rassistischen Grenz- und Visumsregime dieser Staaten, die Menschenrechtsverletzungen auf den Migrationswegen aktiv herbeiführen.

In Bezug auf die EU wird durch den Fokus auf Interventionen in Drittstaaten zusätzlich davon abgelenkt, dass nicht nur eine Anpassung des Asylrechts an die Folgen des Klimawandels noch immer fehlt, sondern dass die EU auch im Gegenteil eine immer restriktivere Asyl- und Migrationspolitik an den Tag legt. Auch hierbei hilft die Darstellung von »Klimaflüchtlingen« als eine homogene Masse, denn so werden die individuellen Schwierigkeiten, die einzelne Betroffene haben, wenn sie versuchen die humanitären Verpflichtungen von Zielländern einzuklagen, nicht weiter thematisiert.

Gleichzeitig wird menschliche Sicherheit und die vermeintliche Hilflosigkeit des Globalen Südens infolge der Klimakrise insbesondere im Zusammenhang mit externem Handeln der EU verwendet, und zwar als rhetorisches Instrument in einer oft auf asymmetrischen Machtverhältnissen basierenden Entwicklungspolitik. Somit wird legitimiert, dass die EU ihren außenpolitischen Arm erweitert, selbst wenn hier oft das geopolitische Eigeninteresse im Vordergrund steht. Die Tatsache, dass die EU Entwicklungs-, Handels- und Energiepartnerschaften zunehmend als Anreiz für Drittländer nutzt, um beim Thema Abschiebung und Migrationspolitik Herkunftsländer von Migrant*innen und Geflüchteten zu Komplizen ihrer eigenen Interessen zu machen, unterstützt diesen Verdacht*.

Apokalypse Now

Eine zweite, nicht weniger problematische Darstellung von Klimageflüchteten in dem Versuch, konservative Politiker*innen und Wähler*innen von dem Ausmaß der Klimakatastrophe zu überzeugen, wurde vor allem von Klimaaktivist*innen im Globalen Norden eingesetzt: Hierzu wurden Schreckensszenarien einer »Masseneinwanderung« vom Globalen Süden nach Europa oder in die USA geschürt, die sich oft mit rassistischen Zuschreibungen von Klimamigrant*innen verbinden. Diese Zuschreibungen beinhalten die Warnung vor Überbevölkerung aufgrund der vermeintlich höheren Geburtenrate von BIPOC, verbunden mit der Angst vor dem diffus »Unkontrollierbaren«; die sich gerade im Bezug auf Klimamigration in einer Analogie von Migration und Naturkatastrophen wiederspiegeln. Die christliche Hilfsorganisation Christian Aid etwa spricht von einer »menschlichen Flut«; andere von einem »menschlichen Tsunami«. Die Vorstellung, dass Klimawandelfolgen im Globalen Süden durch Migration »importiert« werden, erinnert sehr an andere Ängste vor »importiertem Antisemitismus« oder »importiertem Bürgerkrieg«, die in europäischen Migrationsdebatten immer wieder hochkommen. Die Idee eines Teils der Klimabewegung, mit der Angst vor Einwanderung Stimmen für radikalere Maßnahmen gegen den Klimawandel zu gewinnen, geht nach hinten los, auch weil diese Angst am Ende eine nationalistische Abschottungspolitik unterstützt oder gar befeuert, die auf ein globales Problem wie die Klimakatastrophe keine Antworten kennt.

Mit der Angst vor Einwan­derung Stim­men für radikalere Maß­nahmen gegen den Klima­wandel zu gewinnen, geht nach hinten los

Die Formenvielfalt der klimabedingten Migration zeigt sich vor allem dann, wenn die Schicksale und Entscheidungen einzelner Menschen oder Gruppen betrachtet werden. Da wäre zum Beispiel Ioane Teitiota, der 2013 in Neuseeland Asyl beantragte, da in seiner Heimat, dem Inselstaat Kiribati, durch den steigenden Meeresspiegel und bereits stattfindende Umsiedlungen Trinkwasser und Land knapp werden und somit Konflikte und Gewalt zunehmen. Sein Antrag wurde abgelehnt, vor Gericht scheiterte seine Gegenklage zuerst vor dem Neuseeländischen Höchsten Gerichtshof und schließlich auch vor dem Menschenrechtskomitee der Vereinten Nation. Die Begründung: Die Rückkehr nach Kiribati stelle keine unmittelbar vorhersehbare Gefahr für Teitiotas Leben dar, noch könne bewiesen werden, das ihm durch die Abschiebung eine Menschenrechtsbedrohung bevorstehe*.

Entmenschlichung

Eine Entmenschlichung zeigt sich auch in Diskursen der EU, die geflüchtete Menschen als Arbeitskräfte benennen. Dieser Fokus birgt die Chance, möglicherweise rechtspopulistischen Parteien den Wind aus den Segeln zu nehmen oder dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Aber dieses Framing ist an Transitstaaten adressiert, um ihnen die Aufnahme der Fliehenden schmackhafter zu machen. Es kommt mit einem Appell an Geflüchtete, sich den Forderungen des Arbeitsmarktes zu fügen. Das Erste würde die EU entlasten. Das Zweite ist schlicht an der Realität vorbei, denn es ignoriert die Bedarfe der (mehrfach) Marginalisierten, die häufig schwerer von der Klimakrise betroffen sind und sich aufgrund von physischen oder seelischen Zuständen nicht sofort dem Druck des Arbeitsmarktes aussetzen können. Diese Unterscheidung ist auch präsent in EU-Dokumenten, die zwischen »guten«, arbeitenden, sich anpassenden, resilienten Migrant*innen und »schlechten», fragilen Menschen unterscheiden. Eine Kommunikation der EU aus dem Jahr 2017 mit dem Titel »Ein Ansatz der strategischen Resilienz im Europäischen Auswärtigem Dienst« zum Beispiel besagt: »Auf individueller Ebene können Migration und Flucht eine legitime Anpassungsstrategie an schwere äußere Belastungen sein. Aber ein plötzlicher, lang anhaltender oder groß angelegter Migrationsdruck, [...] trifft oft die ärmsten Regionen der Welt am stärksten und setzt fragile Bewältigungsmechanismen weiter unter Druck.« Während also Migration gerne gesehen ist, wenn dadurch Klimaanpassungskosten individualisiert werden können, wird gleichzeitig das Szenario der Bedrohung durch »ungeordnete« oder »Massenmigration« hochgehalten.

Auch die scheinbar großzügigen monetären Hilfeleistungen der EU im Bereich der Entwicklungspolitik sind linguistisch verknüpft mit einer Rückzahlung dieses Geldes durch die Arbeitskraft der Geflüchteten. Andererseits, könnten wir an dieser Stelle kurz aufatmen, sind hier Geflüchtete nicht als passive »Opfer« ihres Schicksals gerahmt, sondern als aktive Menschen – wenngleich durch einen utilitaristischen Fokus als Triebfeder.

Neue Daten, Neues Glück?

Ein Anfang eines sich ändernden Narratives der EU Debatte zwischen Klimakrise und Migration bilden neue Studien, die sich differenziert mit der Multikausalität der Klimakrise auseinandersetzen und sich damit der Übernahme apokalyptischer Narrative verweigern. Die Integration eines fundierten Verständnisses der Multikausalität menschlicher Mobilität durch anthropogene Umweltveränderungen bedeutet im EU Diskurs aber kein Umschwenken zu positiven Narrativen. Vielmehr lassen die neuen Studien eine stärkere Differenzierung zwischen Mobilität innerhalb der vom Klimawandel stark betroffenen Länder und zwischen Drittstaaten zu. Das gibt Raum, differenzierter über Menschen zu sprechen, die aufgrund des Klimas flüchten und individualisierte Lösungen zu finden. Laut UNO-Flüchtlingshilfe, machen wie in den letzten Jahren Binnenvertriebene etwa 58 Prozent der gewaltsam vertriebenen Bevölkerung weltweit aus Zum Beispiel befinden sich in der Rangliste der 20 Länder mit den meisten Migrant*innen aus Afrika elf auf dem afrikanischen Kontinent selbst. Ein Umstand, der die Bedeutung der Binnenmigration in Afrika unterstreicht. Außerdem braucht es laut Studien weit mehr Anreize, um das eigene Land zu verlassen, wie z.B. in der Diaspora lebende Angehörige, sozio-politische oder monetäre Gründe; und nicht wie so oft propagandiert, den Ruf des reichen Globalen Nordens. Diese Herangehensweise könnte ein Gegengewicht zu den entmenschlichenden Narrativen bilden. Hier muss vor allem weiter auf mehrfach marginalisierte Menschen geachtet werden, die nachweislich stärker von den Auswirkungen der Klimakrise betroffen sind und häufig nicht migrieren. Dieser Ansatz bezieht sich vor allem auf Quellen, deren Zahlen keinen direkten Link zwischen Klimakrise und Flucht ziehen können und daher nach breiteren Erklärungen suchen.

Was beide Darstellungen eint, ist das überraschend geringe Interesse an diesen »Klimaflüchtlingen« selbst, die in beiden Fällen als anonyme, homogene Masse dargestellt werden, anstelle einer Empathie für die Vielzahl von verschieden Subjekten, die auf unterschiedlichste Weise von den Folgen der Klimakatastrophe betroffen sind – und den Risiken und Gefahren, aber auch Motiven, die dazu führten, dass sie sich auf den Weg gemacht haben und nun an einem bestimmten Ort sind.

Vereinzelt zeigt die EU ein Verständnis und Interesse an einem umfassenden Bild von klimabedingter Migration; vereinzelt gibt es Annäherungen, die Multikausalität wie zum Beispiel das Ansteigen des Meeresspiegels, veränderte Niederschlagsmengen, Naturkatastrophen aber auch Kriege und bewaffnete Konflikte in Studien miteinzubeziehen. Von einer Anerkennung der Klimakrise als Fluchtursache und Schutzgrund ist die EU jedoch weit entfernt. Und der allgemeine Diskurs der »angespannten Flüchtlingsdebatte« oder der »massiven Migrationsströme» ist und bleibt populistisch.

Julia Reiff arbeitet im iz3w. Lennart Deilmann hat sich in seiner Masterarbeit mit juristischen Fragen der EU-Migrationspolitik beschäftigt.

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